Sunday, October 16, 2011




"Ein klarer Blick für das soziale Oben und Unten"

Evelyne Polt-Heinzl über ihren "schrägeren Blick" auf Handkes Werk, lebenslange Lese-Bindung und ihr Bedürfnis nach Diskretion.
Die Literaturwissenschaftlerin Evelyne Polt-Heinzl hat Peter Handkes Werk einer systematischen Relektüre unterzogen. In 23 Kapiteln spürt sie in "Peter Handke - In Gegenwelten unterwegs" seinen Erzählwelten nach und öffnet neue Zugänge - etwa zum bisher vernachlässigten Humor in Handkes Werk.

Was war Ihre Ausgangsthese?
EVELYNE POLT-HEINZL: Der Ausgangspunkt war der Eindruck, dass auf Handkes Bücher gerne mit einer ganz bestimmten, vielleicht ein wenig verkrampften Herangehensweise reagiert wird. Das Erdrückende seines umfangreichen Werks, sein eigener Anspruch der "Wahrhaftigkeit" und auch die irgendwie starre Ernsthaftigkeit als Person - das nimmt man leicht mit in den Lesevorgang. Ich wollte versuchen, sein Werk mit einem etwas schrägeren Blick neu anzusehen, um so vielleicht ungewohnte Perspektiven zu öffnen.
Eine eher neue Perspektive ist jene der Komik in Handkes Werk. Ganz blöd gefragt: Müssen Sie beim Lesen seiner Bücher tatsächlich lachen?
POLT-HEINZL: Sehr oft schon. Gerade in jenen Büchern, die Handke den Vorwurf des "Hohepriesters" und "Dichter-Künders" eingebracht haben - das begann 1979 mit "Langsame Heimkehr" -, macht er sich über diese Geste auch lustig, lässt sie immer wieder kippen und bringt sein verzweifeltes Bemühen, mit poetischen Mitteln der Welt, den Dingen und den Menschen Würde zu erschreiben, bedachtsam zur Kollision mit der prosaischen Wirklichkeit. Das enthält ein großes Potential an Slapstick-Komik, ähnlich wie bei Franz Kafka, und auch hier wurde das lange nicht wahrgenommen.
Sie beobachten in Handkes Werk einen kritischen Kommentar zu gesellschaftspolitischen Entwicklungen. Wo ist Ihnen das besonders aufgefallen?
POLT-HEINZL: Handke hat ein sehr feines Sensorium für die großen und kleinen Schräglagen unserer Gesellschaft. Und er hat einen klaren Blick für das soziale Oben und Unten, was von der Kritik selten bemerkt wurde. Eine persönliche Erfolgsgeschichte - zumal wenn sie so früh einsetzt wie bei Handke, von der "Publikumsbeschimpfung" 1966 bis zu "Wunschloses Unglück" 1972 -, bedeutet oft, dass die eigenen Anfänge in der Selbstpräsentation wegfallen. Handke hingegen hat beharrlich seine Herkunft aus dem sozialen Abseits zum Bezugspunkt gemacht, der bis heute seine Welt-Sicht prägt. Mit diesem Blick hat er immer wieder Dinge wahrgenommen, bevor sie als gesellschaftliches Problem ausformuliert waren. Sein Weg vom "Popliteraten" der Frühzeit zum poetischen Sinnsucher begann in einer Zeit, als Beschleunigung und Durchkapitalisierung unserer Gesellschaft noch ungebrochen als Fortschritt wahrgenommen wurden, das Unbehagen darüber kam erst später.
Sie haben sich quer durch Handkes Werk gelesen. Haben Sie selbst so etwas wie ein Lieblingswerk?
POLT-HEINZL: Überzeugte Handke-Leser, so würde ich einmal behaupten, haben prinzipiell keine Lieblingswerke. Wer Lesen als lebendigen Kommunikations-Akt versteht, für den ist im Verhältnis Buch/Leseralles in Bewegung. Man könnte es vielleicht anders herum formulieren: Wenn man ein umfangreiches Werk systematisch wieder liest, stellt sich leicht ein gewisser Überdruss ein. Das ist mir aber bei Handke an keinem Punkt passiert.
Im November bekommt Handke für sein Stück "Immer noch Sturm" den Nestroy. Haben Sie das Gefühl, dass er nach diversen Medienhetzen in den letzten Jahren etwas "rehabilitiert" wurde?
POLT-HEINZL: Ich bin mir nicht sicher, ob das nicht einfach bestimmten Mediengesetzen folgt, etwa der Logik einer Premiere bei den Salzburger Festspielen. Fast könnte man darin eine späte Wiedergutmachung der radikalen Missverständnisse rund um Handkes erste Salzburger Premiere vor drei Jahrzehnten sehen: Das "dramatische Gedicht" "Über die Dörfer" wollte damals keiner als Fortsetzung der "Publikumsbeschimpfung" mit anderen Mitteln verstehen und als frühe Radikalkritik an der Zerstörung von Lebenswelt und Lebensqualität im Furor der Modernisierung.
Können Sie sich an Ihre erste Begegnung mit einem Text von Peter Handke erinnern?
POLT-HEINZL: Mein erster Handke war "Die Angst des Tormanns beim Elfmeter", und so wenig ich damals wohl verstanden haben werde, war mir doch klar, dass dieses Buch mit der Lektüre nicht "ausgelesen" ist. Jedenfalls war es der Beginn einer lebensbegleitenden Lese-Bindung.
Haben Sie Peter Handke persönlich kennengelernt?
POLT-HEINZL: Ich habe Peter Handke nie kennengelernt - und ein Vermittlungsangebot für eine Kontaktaufnahme abgelehnt. Ich bin eine Verehrerin seines Werks, habe aber persönlich und als Literaturwissenschaftlerin auch ein starkes und wohl unzeitgemäßes Bedürfnis nach Diskretion.
INTERVIEW: MARIANNE FISCHER