Tuesday, February 26, 2013

PETER HANDKE AND HERMANN LENZ

I am assembling a bunch of pieces on PETER HANDKE AND HERMANN LENZ who evidently  was a very important figure for him.
http://www.saarbruecker-zeitung.de/sz-berichte/kultur/Poetischer-Geschichtsunterricht-mit-Hermann-Lenz;art2822,4738091#.UWhqCrXviSo

 kul-lenz

 Peter Handke schrieb 1975 über Hermann Lenz' Roman "Neue Zeit", es sei das erste Buch dieser Art, in dem der Zweite Weltkrieg nicht in eine Vorzeit verschwinde, "als eine letztlich doch besonnte Vergangenheit". Der Krieg werde hingegen "so atemberaubend gegenwärtig wie Kriege für meine 'unerfahrene' Generation sonst nur in den Träumen". Was darin über diese Zeit geschrieben wird, so Handke, werde verzerrt, detailvergrößert, mit Zeitsprüngen ein weiteres Mal vor uns und für uns geträumt. Das ist schön gesagt, und es trifft diesen Roman in seinem Wesen, weil er wie alle Romane von Lenz auch etwas Schwebendes hat. Die Perspektive ist verschwommen: Man ist mittendrin im Geschehen, und doch ist die Hauptfigur nie ganz zugehörig. Genaue Betrachtungen und Andeutungen lösen sich ab. Die drei Auslassungspunkte sind dabei ein beliebtes stilistisches Mittel von Hermann Lenz - das nur Angetippte muss nicht fortgeführt werden, weil es sich von selbst formuliert und auch immer sein Gegenteil mitsagen kann.
"Neue Zeit" ist kein Heldenroman, kein "Opa erzählt vom Krieg"-Lamento und schon gar keine Verklärung. In diesem dritten Teil des auf neun Bände angewachsenen autobiographischen Zyklus' erleben wir das Alter ego von Lenz in seiner reinen Form, vielleicht weil es einer Extremsituation ausgesetzt ist: Eugen Rapp, so heißt dieses andere Ich, lernten wir als Kind in "Verlassene Zimmer" kennen, als Studenten in "Andere Tage", und nun kommt er 1937 nach München, wo er in Kunstgeschichte promovieren soll. Um ihn herum bereitet man sich auf einen Krieg vor, und er denkt sich oft in eine andere, verklärte Zeit, ins Wien der Jahrhundertwende, in eine Epoche, die einem Außenseiter wie ihm nicht so zugesetzt hätte.
Eugen Rapp ist ein Stoiker und Lakoniker, er lässt die Dinge mit sich geschehen und wahrt innerlich Abstand. Aber es gibt nicht nur die Nazis, sondern auch eine gerade entstehende Liebe. Eugen lernt die junge Halbjüdin "Treutlein Hanni" kennen, lebt sogar als Untermieter bei Familie Treutlein. Wie eng Biografisches und Fiktives miteinander verwoben sind, wie sich das Erlebte verwandelt hat in Literatur und wie sich die Träumereien des jungen Lenz in der Sphäre der Literatur abgespielt haben - das zeigt der schöne Anhang zur Neuveröffentlichung von "Neue Zeit". Es sind Briefe, die sich Hermann und Hanne in den späten 30er und den Kriegsjahren geschrieben haben. Der Krieg, das ist dem sensiblen Beobachter Lenz früh klar, sollte unweigerlich kommen. Er und mithin sein Held werden hineingezogen, zunächst an der Westfront, dann im Osten.
In russischen Sümpfen, vom Tod umgeben, erweist sich der Träumer als Überlebenskünstler - als einer, der zwar nicht als Widerstandskämpfer geboren ist, aber den Alptraum mit seinen eigenen Fantasien durchsetzt. Die Gedichte von Mörike begleiten ihn durch diese Jahre. Wir sind mit dem jungen Mann mitten in den Schlachtfeldern, es gibt keine nachträgliche Rechtfertigung, keine überhöhenden Deutungen, nur die Angst und die Erinnerungen, die sich immer wieder in die Gegenwart des Soldaten drängen. Die Sehnsucht nach einer anderen Zeit. Und nach der in München überlebenden "Treutlein Hanni". Es verwundert nicht, dass diesem Eugen Rapp das Fanatische abgeht. Einen gezielten Schuss auf den Feind mag er nicht abgeben.
Und doch scheint am Ende etwas unweigerlich zerbrochen, ein Leben zerstört von dem Leid, das er zu Gesicht bekommt. Und auch als er aus dem Totenreich heraustritt und aus der amerikanischen Kriegsgefangenschaft entlassen wird, bleibt die Entfernung zur Welt, die Lenz wie kein zweiter aus der Nähe beschreiben kann.
Hermann Lenz, der vor 100 Jahren geboren wurde, hat mit seinem Eugen-Rapp-Zyklus nicht nur sein eigenes Leben vergegenwärtigt. Er hat auch eine Chronik des Jahrhunderts geschrieben, aus der Perspektive eines Involvierten und doch immer von der Seite aufs Geschehen schauenden. Es ist eine Geschichte von unten. "Poetischer Geschichtsunterricht" hat Peter Handke den Rapp-Zyklus genannt, "voller Anmut, voller Würde". rüd
Hermann Lenz: Neue Zeit. Mit einem Anhang: Briefe von Hermann Lenz. Insel Verlag, 429 Seiten, 22,95 Euro.


26.02.2013
http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/kalenderblatt/2017773/
Hermann Lenz (1913-1998) wurde durch seine autobiografischen Romane bekannt. (Bild: picture-alliance / dpa / Frank Mächler)Hermann Lenz (1913-1998) wurde durch seine autobiografischen Romane bekannt. (Bild: picture-alliance / dpa / Frank Mächler)

"Literatur entsteht in der Einsamkeit"

Vor 100 Jahren wurde der Schriftsteller Hermann Lenz geboren

Von Christian Linder

Jahrzehntelang war Hermann Lenz ein stiller, die Anonymität suchender Schriftsteller, dessen Bücher kaum wahrgenommen wurden. Bis plötzlich nach einer Empfehlung Peter Handkes im Jahr 1973 der Ruhm auf ihn niederprasselte.
Die Stille war eines von Hermann Lenz' Idealen.

"Du erlaubst dir, Den Wald zu preisen, / Der Grasmücke zuzuhören / An einem hellen Tag im Juni, /Unbekümmert."

Dass Wolfgang Rihm das Gedicht "Nebendraußen" vertonte, war eines der vielen Zeichen für die Aufmerksamkeit, die Hermann Lenz' Werk seit 1973 fand. Jahrzehnte lang hatte er im Verborgenen geschrieben, ein stiller, die Anonymität suchender Schriftsteller, dessen Bücher kaum wahrgenommen wurden. Bis plötzlich der Ruhm auf ihn niederprasselte. In diesem Jahr 1973, Lenz war 60 Jahre alt, veröffentlichte Peter Handke einen längeren, sehr persönlichen Aufsatz als "Einladung, Hermann Lenz zu lesen" und eröffnete das Verständnis für dessen Bücher und den Wunsch, in eine offene Landschaft hinauszutreten und, wie es in der Erzählung "Jung und alt" heißt, einen stillstehenden Augenblick zu erleben:

"Hohes und gebleichtes Gras erschien als ein dichtes Gespinst, goldschimmernd. Merkwürdig, dieses Gelb der Nähe und darüber das Dunkelblau des Waldes, der ferngerückt war und aussah, als wäre er von der Luft ausgewaschen worden..."

"Literatur entsteht in der Einsamkeit und wird nur vom Einzelnen im stillen Kämmerlein verstanden. Freilich, ohne Verbindung zur Außenwelt kann nichts dargestellt werden. Und dies ist für den, der schreibt, der anregende Zwiespalt, den es zu überwinden gilt. Dass er ohne Beziehungen nach draußen nichts zustande bringt, aber der Abgeschlossenheit und Versenkung, ja am Ende gar des Nachdenkens bedarf, was nur in der Stille möglich ist."

Hermann Lenz hat immer autobiografisch geschrieben: Eugen Rapp zum Beispiel, der Held nicht nur in seinem Roman "Neue Zeit" studiert wie der Autor in München Anfang der 1930er-Jahre Kunstgeschichte, lernt eine Jüdin kennen und hält an seiner Freundschaft zu ihr auch fest, als ihm geraten wird, sich von ihr zu trennen - eine Liebesgeschichte, die sich auch in der Wirklichkeit abgespielt hat.

Wie Rapp beendete Lenz sein während der Nazizeit begonnenes Studium nicht. Wichtiger war für ihn die Begegnung mit dem Schriftsteller Georg von der Vring, der ihn zum Schreiben ermunterte, weil er vermutete, Lenz habe sowieso schon etwas in der Schublade. 1938 veröffentlichte die Zeitschrift "Neue Rundschau" die ersten Gedichte von Lenz. Nach Ende des Zweiten Weltkrieges, den er als Soldat unter anderem in Russland überstand, fand er einen Brotberuf als Sekretär des baden-württembergischen Schriftstellerverbandes.

Daneben schrieb er ein umfangreiches Werk, das den Verlauf der Geschichte in Süddeutschland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beschreibt; es spielt in Stuttgart, wo Lenz am 26. Februar 1913 geboren wurde, auch in München - wo er die letzten Jahre bis zu seinem Tod am 12. Mai 1998 lebte - und in Wien.

"Verlassene Zimmer", "Der Kutscher und der Wappenmaler", "Andere Tage" - in diesen Büchern spürte er seiner eigenen und der kollektiven Vergangenheit nach, mit feinem Gespür für die psychischen Dispositionen von Menschen und die Atmosphäre einer Zeit. Ausgehend von autobiografischen Erfahrungen, sprach Lenz von sich selbst gleichwohl auf fast verschwiegene Art:

"Er wollte nichts (von sich) erzählen, weil's ihm lieber war, wenn ein Zwischenraum blieb."

"Es will mir nämlich so scheinen, als sei ich zeitlebens auf einer Grenze spazieren gegangen, ... auf jener unsichtbaren zwischen Wirklichkeit, Fantasie und Traum. Denn ich habe mehrere Bücher geschrieben, in denen sich Vergangenes mit Gegenwärtigem mischt. Ich meine, Traum und Fantasie ließen jedenfalls etwas anderes ahnen als Greifbares und Schmeckbares. Weshalb es möglich sein könnte, dass auch die sogenannte Wirklichkeit ein Zwischenbezirk ist ... "

In dem Gedicht "Nebendraußen" heißt es zum Schluss:

"Blaue Wälder und Höhenzüge, / Die weithin gelagert sind. / Hinter Stämmen schimmern die Blätter. Froh, nicht alles wissen zu müssen, / Keine Ahnung zu haben von ... / Aber den Wald zu hören."//

http://www.nzz.ch/aktuell/startseite/schoepfer-des-taugenichts-1.18024061
http://derstandard.at/1361241066131/Das-sanfte-Gesetz-eines-ewigen-Wanderers





Das sanfte Gesetz eines ewigen Wanderers

WOLF SCHELLER, 25. Februar 2013, 17:59
  • Hermann Lenz (1913–1998): Erst Peter Handke verhalf ihm zur  Anerkennung durch die Zeitgenossen.
    foto: apa/frank mächler
    Hermann Lenz (1913–1998): Erst Peter Handke verhalf ihm zur  Anerkennung durch die Zeitgenossen.

Die Romanwelten des "schwäbischen Proust" Hermann Lenz gehören in ihrer stillen Eigenart zu den großen Leistungen der deutschen Nachkriegsliteratur

Stuttgart  – Peter Handke war ge rade einmal 31 Jahre alt, in literarischen Kreisen aber schon eine Berühmtheit. In derSüddeutschen Zeitung hatte er einen Artikel über den eine Generation älteren Kollegen Hermann Lenz (1913–1998) veröffentlicht, den wiederum kaum jemand kannte oder wahrgenommen hätte. Handkes Text war dazu angetan, auf einen Dichter aufmerksam zu machen, der  zu dieser Zeit in Stuttgart als Sekretär des Schriftstellerverbands arbeitete 


Schöpfer des Taugenichts

Hermann Lenz (1913–1998) blieb lange im Verborgenen, bis Peter Handke ihn entdeckte.
Hermann Lenz (1913–1998) blieb lange im Verborgenen, bis Peter Handke ihn entdeckte. (Bild: Isolde Ohlbaum / Laif)

Rainer Moritz
1973 erlebte Hermann Lenz den entscheidenden, oft beschriebenen Einschnitt seiner Laufbahn: Sein Hausverlag Hegner muss den Betrieb einstellen. Lenz scheint ein übersehener Autor zu bleiben, der nun zudem ohne Verlag ist. Bis kurz vor Weihnachten 1973 Peter Handke den fulminanten Essay «Tage wie ausgeblasene Eier. Einladung, Hermann Lenz zu lesen» veröffentlicht und die Parteigänger des Zeitgeistes mit einem Mal erkennen, welchen Schriftsteller sie jahrelang übersehen haben. Handke ist es auch, der sich dafür einsetzt, dass Lenz eine neue Verlagsheimat findet, den Suhrkamp-Verlag. Im Ende 2012 erschienenen Briefwechsel zwischen Handke und Siegfried Unseld ist nachzulesen, wie sich Handke für den älteren Kollegen einsetzte. Am 16. April 1974 schreibt er an den Verleger: «Lieber Siegfried, danke für Deinen freundlichen, schönen Anruf gestern Abend. Ich habe mich vor allem darüber gefreut, dass Du nun mit Hermann Lenz ernstlich etwas vorhast. Er braucht es und verdient es.»

Ungeschminkter Frontbericht

Aus der Absichtserklärung wird Realität: Ein Jahr später erscheint bei Insel «Neue Zeit», der Ende der 1960er Jahre entstandene dritte Teil seiner neunbändigen Autobiografie in Romanform. Aus Anlass von Lenz' 100. Geburtstag (den er am 26. Februar begangen hätte) liegt er nun in einer Neuausgabe vor, die zeigt, warum dieser Roman zu den bedeutendsten deutschsprachigen Büchern über den Zweiten Weltkrieg zählt. Seine erzählte Zeit umfasst die Jahre 1937 bis 1946. Lenz' Alter-Ego-Figur Eugen Rapp erkennt früh, dass Hitlers Politik auf eine Katastrophe zusteuert. Seine Promotionspläne verfolgt er nur halbherzig, und als er eingezogen wird, geht es – zuerst in Frankreich, dann in Russland und zuletzt als Kriegsgefangener in Montana – ums nackte Überleben. «Wenn du nur durchkommst» wird sein banges Motto, das durch die Lektüre Marc Aurels unterfüttert wird.
«Neue Zeit» ist der ungeschminkte Bericht eines Frontsoldaten, der kein Held sein will und in den Sümpfen Russlands nach Wegen sucht, innerlich und äusserlich ohne Schaden durch die Jahre zu schlüpfen. Trotz allen Bedrohungen bemüht er sich, sich nicht gänzlich von den Ereignissen vereinnahmen zu lassen und stattdessen den Soldatenalltag minuziös zu beobachten: «Alles sehen, alles hören, alles riechen, was sich dir hier zeigt.» Dieser Blickwinkel macht aus «Neue Zeit» (der Titel ironisiert das Aufbruchspathos der Nationalsozialisten) eine dichtgedrängte Folge von Einzelszenen, die den Krieg ohne jede Überhöhung und in seinem banalen Schrecken zeigt. Im Unterstand hockend und auf die nächsten Gefechte wartend, beugt sich Eugen Rapp über sein meist in Wien spielendes «Gekritzel» und beschreibt Szenen, die dem «Sumpfkrieger» die Illusion verschaffen, es gebe eine andere, unbeschädigte Welt.
Gleichzeitig belastet Eugen die Angst um seine Freundin und spätere Frau Hanne. 1937 lernen sich die beiden im kunsthistorischen Seminar der Münchener Universität kennen. Bei aller Anziehung – das beschreibt der Roman höchst nuanciert – heisst es zuerst, die Anschauungen des anderen vorsichtig auszuloten. Als Eugen erfährt, dass Hanne als sogenannte Halbjüdin gilt, empfindet er nachgerade Erleichterung und macht sich daran, den jähzornigen Kontrahenten Hackl, hinter dem sich kein anderer als der spätere bayrische Ministerpräsident Franz Josef Strauss verbirgt, auszustechen. Mit einer geliehenen Pistole im Jackett will er sich vor dem aufbrausenden Kommilitonen schützen. Je länger der Krieg dauert, desto grösser die Furcht, dass Hanne, die verpflichtet wird, Strassenbahnen zu reinigen, in ein Konzentrationslager kommt. Doch beide überleben den Krieg, und beide werden dessen Lehren nie vergessen.
Der Anhang der Neuausgabe enthält auf rund dreissig Seiten Auszüge aus der umfangreichen, bisher unveröffentlichten Korrespondenz zwischen Hermann und Hanne Lenz. Sie zeigen zwei höchst eigenständige Briefeschreiber, die kein Blatt vor den Mund nehmen. Man tauscht sich über Literatur, Hermanns Prosaversuche, den «Schwindel» der Kriegsverherrlichung und die Bombenangriffe auf München aus, die zum Entsetzen des Paares Thomas Manns Wohnhaus zerstören. Und sie zeigen Lenz als einfallsreichen Liebenden, der seine latente, durch die Distanz geförderte Eifersucht auf aparte Weise rhetorisch ironisiert. Peter Hamm hat die Auswahl dieser Briefe besorgt. Auf eine Kommentierung wurde verzichtet; die vorgenommenen, nicht immer konsequenten Streichungen, die rätselhafterweise auch die Kosenamen der Liebenden betreffen, werden nicht begründet. Dass es Lenz' Hausverlag zum Geburtstagsjubiläum seines Georg-Büchner-Preis-Trägers nicht einmal für nötig hält, der Neuausgabe des Romans ein Nachwort hinzuzufügen, ist unerklärlich.

Mörikes legitimer Erbe

Ganz anders geht der kleine, feine Ulrich-Keicher-Verlag mit Lenz um. Er veröffentlicht einen höchst aufschlussreichen, selten rezipierten Text, der im Herbst 1942 an der Wolchow-Front entstand und wenige Monate später in der «Kölnischen Zeitung» erschien. Lange bevor sich Lenz entschloss, sich selbst unverblümt zum Gegenstand seiner Romane zu machen, wendet er sich im «Schwäbischen Lebenslauf» seiner Familie zu, dem Grossvater Julius Krumm, der bei Stuttgart eine Gastwirtschaft betrieb und als Schützenkönig glänzte. Anders als in seiner gleichzeitig entstandenen Wien-Prosa bleibt Lenz hier ganz in seinem angestammten Bezirk. Er nähert sich dem Vorfahren, der drei Jahre vor Lenz' Geburt starb, behutsam an, erzählt Episoden aus dessen Leben, lässt sich von Fotografien inspirieren und hat einen ausgeprägten Sinn für die konkreten Dinge der Grossvaterwelt. Der Regensburger Germanist und frühe Lenz-Rezensent Hans Dieter Schäfer beschreibt in seinem instruktiven und aus dem Nachlass schöpfenden Nachwort die Hintergründe und macht deutlich, wie Lenz «durch Objektnähe das Kalligrafische zu überwinden» suchte. So ist dieser Text eine bemerkenswerte Vorstufe der grossen Autobiografie und eine Einladung, Hermann Lenz wieder zu lesen und ihn vielleicht, so die Schriftstellerin Anna Katharina Hahn, als «wahren Schöpfer des Taugenichts und legitimen Erben des Leistungsverweigerers Mörike» zu würdigen.
Hermann Lenz: Neue Zeit. Roman. Mit einem Anhang: Briefe von Hermann und Hanne Lenz 1937–1945. Ausgewählt von Peter Hamm. Insel-Verlag, Berlin 2013. 429 S., Fr. 34.90. Hermann Lenz: Schwäbischer Lebenslauf. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Hans Dieter Schäfer. Ulrich-Keicher-Verlag, Warmbronn 2013. 40 S., € 12.–.




KOMMENTARE

und bei wenig bekannten Verlagen etliche Bücher publiziert hatte, von denen freilich kaum jemand Notiz nahm.
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  • STUTTGART:Um 99 € hin & retour – www.austrian.com
Handkes Text Einladung, Hermann Lenz zu lesen machte das Publikum auf einen Dichter neugierig, der so ganz anders war  als die Wortschaffenden aus dem Geist der Gruppe 47, die bis in die 1970er hinein tonangebend waren auf dem Literaturmarkt der BRD. Beide Schriftsteller sind Grenzgänger. Lenz bleibt der "Wanderer", immer ein bisschen unsicher, zögerlich, der sich seiner selbst vor allem in der Natur vergewissert, so wie es in dem RomanDer Wanderer heißt: "Und wenn die Wälder alle tot und kahl sind, können sie bei dir noch nachlesen, wie alles einmal war – au net schlecht …"
Als "Fremdling" und "erledigt" hatte sich Lenz lange Zeit selbst gesehen. Und in der Tat schien dieser Autor, den heute viele als "schwäbischen Proust" bezeichnen, für die Gegenwart nicht geschaffen. Sein ureigener Bezirk,  in dem sich sein Alter Ego Eugen Rapp bewegt, wird in der Erinnerungsschärfe seiner Schilderung zur Endstation einer Fluchtbewegung ins Immer und Überall, vielleicht auch ins Niemandsland. Protagonist Eugen Rapp – Antiheld in einer langen Reihe autobiografischer Romane – verliert sich keineswegs im Eskapismus, sondern findet sich immer wieder abrupt in einer Realität wieder, die kein Abseitsstehen duldet.
 Fremd im Hier und Heute 
Dieser Eugen Rapp war auch einmal jung. Im zweiten Band des neunteiligen autobiografischen Romanwerks Andere Tage beschreibt ihn der Autor bereits als melancholischen Träumer. In der Erzählung Der Tintenfisch in der Garagevon 1968 lässt Lenz den Studenten Ludwig die Ansicht vertreten, man könne sich nicht an der Zukunft orientieren, sondern nur an dem, was man erfahren habe. "Ich beneide alle Alten. Sie haben das meiste hinter sich." Dieser Rapp! In all den Jahren seiner irdischen Wanderung ist sein Haar weiß geworden. Er "sah wie einer aus, der oft in Wald und Flur herumgeht und deshalb über ein besänftigtes Gemüt verfügt."
Ein Fremdling ist auch einer  seiner Romane betitelt. Und diese Rolle akzeptierte Lenz mit einer ausschließlich auf sein Werk konzentrierten Unbeirrbarkeit, die ihm den Ruf eines "schwäbischen Stoikers" eingebrachte. Als Randsteher hatte der Schriftsteller Lenz schon früh die Erfahrung gemacht: "Du gehörst nicht dazu." 
Als Sohn eines Studienrats, geboren in Stuttgart, musste er sein Studium abbrechen, als er zur Wehrmacht eingezogen wurde. Er konnte sich nach der amerikanischen Gefangenschaft glücklich schätzen, unversehrt heimgekehrt zu sein und nie auf jemanden geschossen zu haben. 
Wie sein Alter Ego schlug er sich nach dem Krieg als miserabel bezahlter Sekretär eines Kulturvereins, später eines Schriftstellerverbandes durchs Leben. Ohne seine Frau Hanne Trautwein, die als Treutlein Hanni in den Rapp-Romanen ihren Part hat, hätte Lenz diese Notzeit kaum überstanden. Aber er hatte seiner jüdischen Lebensgefährtin in der Nazizeit die Treue gehalten. Es gehört zu den Treppenwitzen der Literaturgeschichte, dass Lenz ausgerechnet bei der sich antifaschistisch gerierenden Gruppe 47 als "Konservativer" durchfiel, weil er sich nicht auf die Schwarz-Weiß-Malerei der Vergangenheit einlassen wollte.
Nach der Handke-Intervention kam der Erfolg, auch der Büchnerpreis. Suhrkamp nahm seine Bücher in das Verlagsprogramm auf. "Eine mit Überordentlichkeit verkleidete Angst" sei der Urgrund aller Lenz-Bücher, so Handke. Aber es bleibt doch staunende Bewunderung angesichts eines Werks, dem es wiederholt gelingt, auch im Schatten der Katastrophe dem Schönen Raum zu geben. (Wolf Scheller, DER STANDARD, 26.2.2013)