Sunday, September 16, 2012

INCIDENTAL SCHOLARLY REVIEWS






 

Die Stunde der wahren Verletzung

Das Buch des Jahres: Zum siebzigsten Geburtstag von Peter Handke erscheint der Briefwechsel mit seinem Verleger Siegfried UnseldVon 
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Im April 1969 liest Peter Handke mit großem Interesse den Briefwechsel zwischen Hermann Hesse und seinem Verleger Peter Suhrkamp. "Ich bin immer erstaunt über die Genauigkeit der Information, die Suhrkamp Hesse gegenüber bewies. Jede Einzelheit teilte er ihm mit, belegte jede Änderung und Neuausgabe, fragte vor jeder Disposition, ob der Autor einverstanden sei", schreibt Handke nun an seinen eigenen Verleger Siegfried Unseld, den Nachfolger Peter Suhrkamps.
Er schreibt das nicht ohne Hintergedanken: "Ich will damit nicht andeuten, dass es bei mir ganz und gar anders ist, aber die Information ist jedenfalls viel schütterer." Und prompt beschwert sich Handke darüber, dass man sein Erfolgsstück "Kaspar" ohne Nachfrage für die "Spectaculum"-Anthologie zweitverwertet habe. "Und die Abrechnungen über die verkauften Bücher des 2. Halbjahres 1968 stehen auch noch aus."
Wer den pünktlich zum 70. Geburtstag Handkes am 6. Dezember erscheinenden Briefwechsel des Autors mit Siegfried Unseld liest, dürfte kaum den Eindruck bekommen, Handke werde nicht ausreichend informiert. Als Leser ist man froh, dass Unseld es nicht noch genauer nahm, obwohl er rasch lernte, dass mit dem Autor in Businessdingen nicht zu spaßen ist. Es gehört zum Genre des Verlegerbriefwechsels, dass es darin um Geschäftliches geht, um Preiskalkulationen, Vorschüsse, Honorarprozente und Erstauflagen. Der Autor bleibt immer auch Vertragspartner, selbst wenn er wie Handke rasch zum Freund wird.
Schon im Dezember 1967, Handke ist seit knapp zwei Jahren Suhrkamp-Autor, sind die beiden zum Du übergegangen: "Lieber Peter, ich habe an Deinem 25. Geburtstag sehr herzlich an Dich gedacht. Was hast Du noch vor Dir!" Da hatte sich Handke mit seiner Wutrede bei der Gruppe 47 und der "Publikumsbeschimpfung" gerade als zorniger junger Mann einen Namen gemacht. Kurz danach wurde Handke mit der "Angst des Tormanns beim Elfmeter" (1970) zumBestsellerautor, ein kometenhafter Aufstieg, den man hier aus der Schlüssellochperspektive nacherleben kann.
Siegfried Unseld wurde zum Verlegermythos, weil sich beim ihm unternehmerischer Ur-Instinkt mit einer phänomenalen Begabung zur Autorenpflege verband. Eine Fähigkeit, die gerade bei dem überempfindlichen Handke absolut notwendig war. Das Faszinierende an dieser Korrespondenz ist, wie sich hier Freundschaft und Geschäft durchdringen – und eben auch gegenseitig gefährden. Trotz der raschen Erfolge gibt es frühe Misstöne, zunächst bei scheinbaren Petitessen wie einem unabgesprochenen Zeitschriftenabdruck. Schon 1966 baut Unseld vor: "Wir müssen uns doch darauf einstellen können, dass wir uns auch kurz gefasste Wahrheiten zu sagen vermögen."
Davon wird ihm Handke im Lauf der Jahre genug liefern. Anfang 1970 etwa will Unseld Handke eine Übersetzung von Voltaires Candide vorschlagen und steigt leichthin ein: "Ich stelle mir vor, Du sitzt inParis und könntest Dich vielleicht langweilen." Handke findet das "sehr beleidigend", schließlich könne er nicht anders "als beim Schreiben zu sitzen": "Aber Du hast das Wort ja metaphorisch gemeint, was noch viel schlimmer ist. Es zeigt eine Vorstellung des Verlegers vom Leben eines ('seines') Autors, die ich beängstigend finde." Handke glaubt, das Arbeitstier Unseld halte ihn für einen Taugenichts.
1975 fast die gleiche Situation. Am Telefon hatte sich Unseld erkundigt, was Handke gerade "so täte". Der hört daraus eine Haltung, "als lebte ich in den Tag hinein (was ich natürlich manchmal tue, weil es wichtig für die Arbeit und außerdem etwas Menschenwürdiges ist), und Du müsstest mich zu etwas anspornen. Dem ist nicht so, und sollte nie so sein. Ich habe für mein Leben etwas vor, das ich mir selber vorgenommen habe, und das macht mich stark."
Tatsächlich ist Handke über etwas ganz anderes verstimmt: nämlich über die vermeintlich maue Reaktion des Verlegers auf sein neues Buch. Unseld war zwar "begeistert" (was Handke ihm nicht abnimmt), hatte aber dann gesagt: "Dieses Buch wird seine Leser finden." Handke ist völlig von der Rolle: "Was Du da sagtest, schlug mir ein richtiges Loch ins Bewusstsein – es war nicht nur nichtssagend und erschreckend unpersönlich, sondern auch bezeichnend." Handke sieht sein Werk als Ware behandelt und fühlt "absolute Leere auf Seiten des 'Herstellers'". Das Buch, um das es geht, heißt übrigens "Die Stunde der wahren Empfindung". Zu allem Überfluss konnte Unseld dafür nur Buchhandelsvorbestellungen von 5000 Stück melden, doch er merkt rasch, wo des Pudels Kern ist, und rechnet diese Zahl aufs Doppelte hoch. Konflikt beigelegt.
Ein Dauerstreit entsteht aus Handkes regelmäßigen Seitensprüngen zum österreichischen Residenzverlag. Fast zum Bruch kommt es erstmals 1977, als dort die Notizen "Das Gewicht der Welt" erscheinen. Ein anderer Streitpunkt war ein Darlehen zur Finanzierung der Verfilmung der "Linkshändigen Frau", das Handke von Unseld forderte (und auch bekam), immerhin 100.000 Mark.
Überhaupt wird man über Handkes Finanzsituation ausgiebig informiert. So lernen wir den Schriftsteller von einer bisher völlig unbekannten Seite kennen: Mit spitzem Bleistift schrieb er nämlich nicht nur seine Manuskripte. Die Höhe der Auflagen, der Ladenpreis, die Autorenprozente – all das hatte er ständig im Blick. Diese Fixierung auf Verkaufserfolge irritierte sogar den Kaufmann Unseld. Über einen Besuch bei Handke 1975 schreibt er: "Sonst eher Freundliches; er fragte zum ersten Mal nicht nach den Absatzzahlen seiner Bücher, obschon ich diese parat hatte. Als wir dann doch auf dieses Thema kamen, und ich ihm sagte, dass in diesem Jahr das 'Wunschlose Unglück' mit 50.000 Exemplaren am besten verbreitet wurde, widersprach er mir mit dem Hinweis, dass die Taschenbuchausgabe des 'Tormanns' noch besser ginge. Das Ganze ist ein großes Thema für Handke, denn in seiner Küche hat er das Filmplakat der 'Falschen Bewegung' seinerseits plakatiert mit den laufenden, aus den 'Spiegel'-Nummern jeweils ausgeschnittenen Bestseller-Listen. Was ein Autor nicht alles macht."
Zugleich verletzt Handke jede Kritik maßlos. Als die "Linkshändige Frau" verrissen wird, folgert er gegenüber Unseld, nach einigen Gläsern Wein: "In der Bundesrepublik ist Größe nicht mehr möglich." Trotzdem wird er in den Achtzigern endgültig zu einem Klassiker. Ein Problem ist dabei, dass es auch noch andere von der Sorte gibt. Thomas Bernhard zum Beispiel, dessen "Verstörung" Handke 1967 noch für "großartig" hielt. 1987 lästert er in einem Interview über den Verlagskollegen. Unseld ist "bedrückt". Handke stellt klar: "Es ist so eine schamlose Schein-Literatur."
Doch das sollte noch nicht die härteste Prüfung sein. Am 27. April 1993 sieht sich Unseld genötigt, Pathos als letztes Mittel einzusetzen: "Wir sind nun Jahrzehnte in der Beziehung Autor-Verleger gestanden, und ich meine, sie war produktiv; wir haben Höhen und Tiefen erlebt. Ich war stets in sicherem Glauben, dass wir, jedenfalls so lange ich auf der Brücke stehe, zusammenbleiben werden. Für mich bist Du der wichtigste Autor des Verlages."
Was ist vorgefallen? Es geht um Remittenden, um Darlehen, ein abgesagtes Treffen, auch um abfällige Äußerungen Unselds über Hubert Burda, einem engen Freund Handkes. Aber es geht auch um das Zerwürfnis zwischen Siegfried Unseld und seinem Sohn Joachim, zu dem Handke ein recht enges Verhältnis hatte und der 1991 aus der Geschäftsführung ausscheiden musste. Kurz, es geht um den großen, tragischen Bruch im Hause Suhrkamp. Handke schreibt: "Und über den Stand der Dinge mit Deinem Sohn redest Du mit einem Autor, als sei all das Deine Privatsache und die Bücher halt das Dazugepurzel für die reichen Leute."
Unseld verzichtet ausdrücklich darauf, mit gleicher Münze zurückzuzahlen: Im "Autor/Verleger-Stück" sei es wohl "fettgedrucktes Gesetz", "ausschließlich nach Wahrheit und Verletzung des einen Protagonisten zu fragen." Dann werden die recht banal wirkenden Streitpunkte abgehakt. Aber dann der ergreifende Schluss: "Lieber Peter, Du weißt, wie tief mir der Bruch mit Joachim ins Leben gefahren ist – und rede ich mit Dir darüber, so rede ich vielleicht auch um Hilfe mit dem Freund. Ich danke Dir für Deinen Brief."
Doch damit ist es nicht getan. Endlich kommt es zum Treffen, kurz vor Weihnachten 1993, in Paris und Chaville. Handke übergibt Unseld das Manuskript von "Mein Jahr in der Niemandsbucht" (Vorschuss: DM 300.000,–). Zugleich will man sich aussprechen. Doch am 13. Januar schreibt Handke einen Brief, der Unseld bis ins Mark trifft, sodass er, für ihn absolut ungewöhnlich, seine Erwiderung nicht der Sekretärin diktiert: "Ich bin zu aufgeregt, um die Antwort handschriftlich schreiben zu können, doch ich tippe diesen Brief selbst, niemand wird ihn hier zu Gesicht bekommen, wie ich auch Deinen Brief niemand, auch nicht Ulla zu lesen gebe." Tatsächlich fehlt Handkes Brief in diesem Band, "nicht ermittelt", wie die knappe Fußnote sagt. Hat Unseld ihn selbst vernichtet?
Keine Frage, wir sind hier im emotionalen Kern der Autor-Verleger-Beziehung. Was Handke geschrieben hatte, lässt sich nur erschließen. Es geht wieder um viel Banales, wie Burgtheaterabrechnungen, aber auch um den Vorwurf eines tief gekränkten Autors, der Verlag hätte nicht sofort Feedback zur "Niemandsbucht" gegeben (einigermaßen absurd, wenn man den Umfang des Manuskripts bedenkt). Aber dann schreibt Unseld: "Schlimmer empfandest Du, was ich an jenem Abend über Ulla und Joachim sagte. Ich finde diese Vorwürfe doch unfair. Bitte nimm es mir ab, ich habe Dir als Freund meine Sorgen enthüllt (und, was Ulla betrifft, bitte, so stupide kann ich mich nicht geäußert haben)." Das große, immer noch sehr rätselhafte, von Legenden umstellte Suhrkamp-Drama um den Sohn und die Witwe Ulla Unseld-Berkéwicz – in Handkes verlorenem Brief hätte man vielleicht einen kleinen Fingerzeig bekommen.
Zum Bruch kommt es nicht. Mit der Veröffentlichung der "Niemandsbucht" wird ein "neues Lebenskapitel" (Unseld) zwischen den beiden eröffnet, unter den Rest kommt ein "Schlussstrich". Handke aber spricht davon, die Differenzen von nun an "in Schweigen" akzeptieren zu müssen. Der Ton entspannt sich wieder; der letzte Brief Handkes datiert vom 18. April 2002, wenige Monate vor Unselds Tod. Dennoch spürt man, dass, nach jenen dramatischen Wintertagen 93/94, der Dialog um ein Tabu herum fortgeführt wird, um eine Wunde, an die keiner der beiden mehr rühren mag. Vielleicht taucht der Brief ja doch noch auf, im Archiv oder bei Handkes unterm Sofa. Doch auch mit dieser auffälligen Lücke ist dieser Briefwechsel eine Literaturgeschichte aus allererster Hand, das Beziehungsdrama zweier Jahrhundertgestalten, ein pulsierendes Lebenswerk. Das wichtigste Buch des Jahres.
Peter Handke, Siegfried Unseld: Der Briefwechsel. Herausgegeben von Raimund Fellinger und Katharina Pektor. Suhrkamp Verlag, 726 S., 39,95 Euro
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http://www.kathweb.at/site/nachrichten/database/50522.html



"Große Literatur weiß um die Größe und das Elend des Menschen"
Grazer Bischof Kapellari beschreibt bei Symposion in Wien seine vielschichtigen Annäherungen an das Werk Peter Handkes - Religionskritik im Frühwerk des Kärntner Dichters hat sich gewandelt - Dogmatiker Tück: Literaturwissenschaft und Theologie können voneinander lernen
09.11.2012
Wien (KAP) Alle große Literatur - und so auch jene von Peter Handke - kennt die "conditio humana" mit ihren Höhen und ihren Abgründen und weiß um die Größe und das Elend des Menschen: Das hat der Grazer Bischof Egon Kapellari am Donnerstagabend beim Handke-Symposion im Wiener Schottenstift betont. In seinem Festvortrag zum Tagungsthema - die religiöse Dimension im Werk Peter Handkes - beschrieb Kapellari seine vielschichtigen Annäherungen an das Werk des Kärntner Schriftstellers u.a. mit diesem Bekenntnis zur Lebensrelevanz der Literatur. Er hatte es als damaliger Kärntner Bischof bereits 1998 beim Requiem für den in Paris verstorbenen und in der Klagenfurter Stadtpfarrkirche St. Egid bestatteten Vertreters des "Renouveau catholique", Julien Green, abgelegt.

Das zweitägige interdisziplinäre Handke-Symposion mit Zugängen der Theologie wie auch der Literaturwissenschaft stelle vor die Fragen "Was kann Kunst? Was darf Kunst?", so Kapellari. Er erinnerte an Schillers Wort vom Theater als "moralischer Anstalt" und Rilkes Erste Duineser Elegie mit der Darstellung des mythischen Ursprungs von Musik als etwas, "das uns jetzt anruft und tröstet und hilft". Auch der "zuweilen schwer erträgliche Moralist" Bert Brecht habe im Stück "Der kaukasische Kreidekreis" moniert, dass Schönheit und Güte verbunden bleiben, da sonst Humanität verloren gehe.

Handke sei "gewiss kein drastischer Moralist", so der Bischof weiter. Aber einen ähnlichen Anruf wie "Du musst dein Leben ändern" wie ihn Rilke einem antiken Apoll-Torso zuschrieb, gebe es auch bei Handke: Er drücke sich an vielen Stellen seines Oeuvres aus, "die freilich nicht trompetenhaft sagen 'Du musst!'", die aber mindestens sagen 'Du kannst!', sagte Kapellari.

Gemeinsame Begeisterung für Bernanos

Der Grazer Bischof und Verfasser des Buches "Aber Bleibendes stiften die Dichter" berichtete, dass er nicht nur durch einen gemeinsamen Freund - den langjährigen Mitarbeiter der Salzburger Festspiele, Hans Widrich, der ebenfalls als Experte zum Symposion eingeladen wurde - immer wieder mit Peter Handke zu tun hatte. Er wisse um die Begeisterung Handkes für den "Renouveau catholique"-Autor Georges Bernanos, die er teile, und der wie auch Paul Claudel "mitbestimmend für meine Entscheidung zum Weihepriestertum" wurde.

Als seit jeher Viellesender halte er sich, so Kapellari, "an den Ufern des Handke'schen Erzählstroms" immer wieder auf. Besonders berührt habe ihn die Erzählung "Wunschloses Unglück", in der Handkes Mutter zum Opfer eines depravierenden familiären und einengenden dörflichen Milieus werde und "schließlich nicht mehr leben mag". Glaube und Frömmigkeit werden von Handke für dieses Schicksal mitverantwortlich gemacht, sagte Kapellari. Dessen frühe Werke seien ausgesprochen religionskritisch, "wobei Religionskritik aber nicht im Vordergrund steht, sondern in eine umfassende Sprachkritik eingebettet ist".

Vergegenwärtigung durch Literatur und Liturgie

Diese kritische Distanz zur Religion hat sich nach den Worten des Bischofs später gewandelt, etwa in der Tetralogie "Langsame Heimkehr", "Die Lehre der Sainte Victoire", im dramatischen Gedicht "Über die Dörfer" und in der "Kindergeschichte". In seiner Kafka-Preisrede von 1978 habe Handke programmatisch verkündet, nicht mehr nur Schreckenserfahrungen der eigenen Existenz schreibend bewältigen zu wollen, sondern auch Erfahrungen von Glück, Freude, Zusammenhang und Sinn literarisch aufzugreifen. Kapellari: "Gelingt das sprachlich, dann bleiben solche Erfahrungen in Erinnerung, bekommen Dauer im Bewusstsein, lassen sich wiederholen und sinnstiftend vergegenwärtigen." Allein schon aus dieser Intention ergebe sich eine Parallele zwischen Handkes Erzählen und der Vergegenwärtigung von Heilsgeschehen in der Heiligen Schrift und im Sakrament der Eucharistie.

Kapellari verwies auf Handkes Erinnerung aus "Die Lehre der Sainte Victoire" (1980), es habe für ihn schon als Kind "ein Bild der Bilder" gegeben, nämlich den Kelch mit den geweihten Hostien im Tabernakel. "Dieses sogenannte 'Allerheiligste' war mir seinerzeit das Allerwirklichste", so der Schriftsteller. Dazu passt laut Kapellari ein Satz Handkes aus einem "Zeit"-Interview von 2010: "Ich weiß nicht, ob ich an Gott glaube, aber an den Gottesdienst glaube ich."

Handke lasse die Kant'sche Frage, "ob ein Gott sei", in seinem Werk offen, resümierte Kapellari. "Vielleicht steht dahinter die Entscheidung, einem Dilemma entgehen zu wollen: Der Glaube an einen jenseitigen personalen Gott könnte fragen lassen, ob dem Menschen dadurch die Freude an der Welt geschmälert und Todessehnsucht erweckt werden könnte. Andererseits würde ein erklärter Atheismus eine Reduktion der menschlichen Existenz auf krude Faktizität ermöglichen."

"Verwandeln durch Erzählen"

Die von der Literaturwissenschaft oft "sträflich vernachlässigte" religiöse Dimension im Werk Peter Handkes steht laut Veranstalter Prof. Jan-Heiner Tück im Mittelpunkt des noch bis Freitagabend dauernden Symposions "Verwandeln durch Erzählen" im Schottenstift. Der Wiener Dogmatikprofessor sagte in seiner Einleitung am Donnerstag, der Tagungstitel lasse zur der narrativen Vermittlung von Identität auch eucharistische Konnotationen anklingen: In "Mein Jahr in der Niemandsbucht" (1994) schildere Handke den Besuch eines slawischen Gottesdienstes. Es habe ihm seltsam angemutet, dass der Ostkirchenpriester zur Fleisch-und-Blut-Werdung des Brotes und des Weins noch entsprechende Beschwörungsriten aussprach, während im katholischen Ritus zur Verwandlung die reine Erzählung ausreichte: "Dieses Verwandeln allein durch Erzählen blieb mir näher", so der Autor.

Tück betonte, zwischen den Suchbewegungen der Gegenwartsliteratur, in denen es immer auch um Fragen von Liebe, Trauer, Schuld und Tod geht, und religiösen Weltdeutungen, die auf die Fragen nach Herkunft und Zukunft von Welt, Mensch und Geschichte Antworten anbieten, bestünden Affinitäten. Literaturwissenschaft und Theologie sollten voneinander lernen und sich vor platten "Abwehrreflexen" gegenüber Religiösem einerseits und Vereinnahmungen der Literatur als "Stichwortgeber" andererseits hüten.

Zahlreiche "eucharistische Spuren" bei Handke

In seinem eigenen Vortrag am Freitag ging Tück den zahlreichen "eucharistischen Spuren im Werk von Peter Handke" nach. Der Dogmatiker schilderte eine Episode aus dem Roman "Der große Fall" (2011), die geeignet sei, diesen Titel zu erklären:

Ein Schauspieler, dem in einer Metropole ein Preis verliehen werden soll, spürt beim Fußmarsch vom Stadtrand ins Zentrum einen "Hunger, der nach mehr ausgreift, als durch Essen gestillt werden könnte", und der unbenennbar bleibt, weil - so Tück - diese "unstillbare Sehnsucht nach Größerem die sprachlichen Möglichkeiten übersteigt". Er besucht - als einziger Teilnehmer - eher zufällig eine Messfeier. Und verspürt im Erleben des vergegenwärtigten Heilsgeschehens in der Wandlung plötzlich den Drang, nicht nur sein Knie zu beugen, "sondern der Länge nach hinzustürzen und mit dem Gesicht nach unten liegenzubleiben", wie Handke schreibt. Der Schauspieler unterlässt diese sonst nur in der Weiheliturgie und am Karfreitag vorgesehene Geste, ist aber nach dem Segen "Geh hin in Frieden!" und einem Glas Wein mit dem Priester danach in der Sakristei selbst erfüllt von einer beglückenden Wandlung; er pilgert weiter stadteinwärts und "spürt eine Freude in sich, die sich von anderen, vorangegangenen Freuden unterscheidet" und die "das Leid der anderen nicht verdrängt oder vergisst".

Bedeutungsvolle Messbesuche kommen bei Handke immer wieder vor, wies Tück hin. Und die Eucharistie werde auch beim Schriftsteller in ihrer dreifachen theologischen Bedeutung wahrgenommen: als an die Passion erinnerndes Zeichen, als Gemeinschaft stiftendes Geschehen und als Vorgeschmack auf die kommende Welt.

Freilich - Handke weigere sich, sich als gläubig zu bezeichnen, nenne sich aber auch nicht ungläubig. "Festlegungen - das scheint zur Signatur spätmoderner Religiosität zu gehören - werden vermieden", resümiert Tück.



Handke-Symposion im Wiener Schottenstift

9.11.2012
O-Ton-Paket mit Prof. Jan-Heiner Tück
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Inhalt:

Wien: Symposion zeigt religiöse Dimension im Werk Peter Handkes
kathbild.at
Theologen veranstalten interdisziplinäre Tagung in Wien - Dogmatiker Tück: Literaturwissenschaft oft "blind" für religiöse Bezugnahmen
06.11.2012
Wien (KAP) Die von der Literaturwissenschaft oft "sträflich vernachlässigte" religiöse Dimension im Werk des österreichischen Schriftstellers Peter Handke steht im Mittelpunkt eines zweitägigen Symposions am Donnerstag und Freitag im Wiener Schottenstift. Veranstalter sind die Wiener Theologen Jan-Heiner Tück und Andreas Bieringer, die auch selbst Vorträge vor allem über die vielfältigen Bezugnahmen Handkes zur Liturgie halten. Den Festvortrag am Donnerstagabend hält der kulturversierte Grazer Bischof Egon Kapellari (19.30 Uhr), zu Wort kommen aber auch renommierte Germanisten wie Prof. Hans Höller (Salzburg) und der im Rom lehrende Benediktiner Elmar Salmann.

Den Titel der Tagung "Verwandeln allein durch Erzählen" verdeutlichte der Wiener Dogmatikprofessor Tück gegenüber "Kathpress" mit einem vielsagenden Handke-Zitat aus einem Interview der Wochenzeitung "Die Zeit" (2010): "Wenn jemand nur sagt, er sei religiös, geht mir das auf die Nerven. Wenn er nicht erzählt, was das ist. Das Erzählen ist das Entscheidende. Wenn ich an der heiligen Messe teilnehme, ist das für mich ein Reinigungsmoment sondergleichen. Wenn ich die Worte der Heiligen Schrift höre, die Lesung, die Apostelbriefe, die Evangelien, die Wandlung miterlebe, die Kommunion und den Segen am Schluss 'Gehet hin in Frieden!', dann denke ich, dass ich an den Gottesdienst glaube. Ich weiß nicht, ob ich an Gott glaube, aber an den Gottesdienst glaube ich."

Tück bedauerte, dass die Literaturwissenschaft, aber auch das Feuilleton oft "blind" für das Religiöse nicht nur im Werk des literarischen "Jahresregenten" - Handke wird am 6. Dezember 70 Jahre alt - seien. Allerdings habe auch die Theologie oft wenig Achtsamkeit dafür, was Schriftsteller an religiös relevanten "Zeichen der Zeit" zur Sprache bringen. Peter Handke sei zweifellos einer jener Autoren, der immer wieder produktiv an die Sinnpotenziale von Religion anknüpfe. Diese habe sich gerade in ihren Riten häufig als "säkularisierungsresistent" (Habermas) erwiesen, meinte der Wiener Dogmatikprofessor.

Handkes Werk weise zwar viele für die Gegenwartsliteratur typische Züge von "Gebrochenheit" auf und dürfe nicht "theologisch vereinnahmt" werden. Aber, so Tück, es sei auch offenkundig, dass der in Frankreich lebende Autor immer wieder auf Motive der Eucharistie und der Bibel eingehe sowie in seinen Erzählungen und Journalen mehrfach Besuche in Kirchen oder Gottesdiensten schildere. In seinem Buch "Die Lehre der Sainte-Victoire" (1980) etwa bezeichnete Handke die eucharistische Wandlung als das "Allerwirklichste". Tück vermutet, dass Handke selbst eine theologische "Ausweitung" des wissenschaftlichen Blicks auf sein Schaffen schätze.

Frühe biografische Bezüge zur Religion

Die Biografie Peter Handkes weist schon frühe und auch spannungsvolle Bezüge zur Kirche und Religion auf: Mit sechs Jahren kehrte er 1948 aus Berlin, der Heimatstadt seines Stiefvaters Adolf Bruno Handke in seine Heimat zurück, dem Dorf Griffen im zweisprachigen Süden Kärntens. In seinem sein Romanerstling "Die Hornissen" (1966) schildert Handke später den Zwiespalt zwischen Außenseitertum und dem idyllisch-provinziellen Dorfleben mit seinen wiederkehrenden Arbeiten, Kirchenbesuchen und Unterhaltungsarten.

Nach der Volksschule und zwei Jahren Hauptschule in Griffen wechselte der gute Schüler in das Priesterseminar Marianum in Maria Saal mit dem angeschlossenen katholisch-humanistischen Gymnasium Tanzenberg. Die dafür nötigen Formulare und Empfehlungen besorgte sich der Zwölfjährige selbst vom Pfarrer.

In der Tanzenberger Zeit veröffentlichte Handke erste literarische Texte für die Internatszeitschrift. In der siebten Gymnasialklasse, war er es wiederum selbst, der - zunehmend angestoßen von der katholischen Internatsenge - einen neuerlichen Schulwechsel nach Klagenfurt erwirkte. Das in Graz begonnene Studium der Rechtswissenschaften schloss Handke wegen der Entscheidung für die Schriftstellerei nicht ab. Zunächst als "enfant terrible" des Literaturbetriebes gehandelt, wandte sich Handke später immer mehr "leiseren" Themen zu, sein Verhältnis zur Religion war nicht nur mehr durch erlittene Konflikte geprägt, jenes zur Eucharistie gar von Faszination.

Das Symposion im Prälatensaal des Wiener Schottenstifts (Freyung 6, 1010 Wien) beginnt am Donnerstag um 10 Uhr, bis Freitagabend stehen nicht weniger als elf Vorträge und eine abschließende Podiumsdiskussion auf dem Programm (Informationen:http://ktf.univie.ac.at, Anmeldung: dogmatik@univie.ac.at).

 


Symposium "Verwandeln allein durch Erzählen" Peter Handke im Spannungsfeld von Literaturwissenschaft und Theologie
08.11.2012
10:00 Uhr
Termin in Kalender eintragen
Prälatensaal des Schottenstiftes (Freyung 6, 1010 Wien)
Dieses Symposium findet anlässlich des 70. Geburtstages vonPeter Handke statt. Renommierte Germanisten (Hans Höller, Helmuth Kiesel) und poetisch interessierte Theologen (Elmar Salmann) werden aus diesem Anlass zusammenkommen.

Seit Jahrzehnten gehört Peter Handke zu den bedeutendsten deutschsprachigen Gegenwartsautoren. Unter dem Titel „Verwandeln allein durch Erzählen“ wird vom 8. – 9. November 2012 ein interdisziplinäres Symposium an der Universität Wien stattfinden.

Die Tagung wird Peter Handkes Werk im Spannungsfeld von Theologie und Literaturwissenschaft näher beleuchten. Bislang standen vor allem geschichtliche, gesellschaftskritische und politische Aspekte im Vordergrund. Weniger beachtet wurden hingegen die religiösen Bezüge. Dabei ist Handkes Werk ohne die biblischen Quellen und liturgischen Anspielungen in seiner Sinndichte nicht angemessen zu verstehen.

Um Anmeldung bis 2. November wird gebeten (dogmatik@univie.ac.at)





Umkurvungen

Leopold Federmairs lesenswerte Annäherungen an Peter Handke »Die Apfelbäume von Chaville«

Von Lothar Struck
"Annäherungen an Peter Handke" untertitelt Leopold Federmair sein Buch "Die Apfelbäume von Chaville". Und an einer Stelle beschreibt er Handkes Erzählen als ein "Umkurven": es verbindet die Fortbewegungsweise des Gehens mit der literarischen Tätigkeit des Umschreibens. Diese Beschreibung kann man auch für Federmairs Vorgehen verwenden. Die acht Essays dieses Buches sind Wort gewordene "Umkurvungen", Selbstvergewisserungen eines Lesers, geschrieben als Angebote für andere (suchende, offene) Leser. Als Kronzeugen werden neben Adalbert Stifter und Ferdinand Raimund, auf die sich Handke immer wieder selbst bezieht, Heimito von Doderer, Klassiker wie Goethe und Novalis, natürlich auch die beiden "Figuren der Umwertung" Nietzsche und Genet, Thomas Bernhard, Rainer Maria Rilke und Michael Ende herangezogen (die Aufzählung ist nicht vollständig). Diese Parallelführungen werden ergänzt durch zum Teil sehr persönliche Leseeindrücke des Autors. Dabei werden Gemeinsamkeiten und Kontinuitäten, Unterschiede und Brüche im Werk Peter Handkes gegenübergestellt. Das wird präzise und flüssig vorgebracht und hat Tiefe, ohne den Leser zu überladen.
Wunderbar dieser Aufsatz über den Besuch Federmairs und seiner kleinen Tochter bei Handke: die vibrierende Spannung, die zwischen dem gastfreundlichen, aber zuweilen stichelnden Dichter und dem besuchenden Leser entsteht und dann das grandios erzählte Schlussbild (welches hier nicht verraten wird). Instruktiv sind die Ausführungen über den "Bildverlust", dieses kryptisch-düstere Werk, das Federmair mit einigem Grund als barockes Epos charakterisiert. Seine Fundstücke, Eindrücke und Einwürfe bringen es plötzlich wieder zum Leuchten, sowohl als friedliebende Hommage an Cervantes und seinen komischen Kriegerals auch in Verbindung mit einer gesellschaftlichen Autarkie-Utopie, die so oft in Handkes Werk durchschimmert; vor allem im dramatischen Werk, von "Über die Dörfer" bis zur Reisegesellschaft im "Spiel vom Fragen" oder dem "Lusthaben auf Macht" des "guten Königs" in "Zurüstungen für die Unsterblichkeit", dessen menschenfreundliches Projekt am Ende von (Selbst-)Zweifeln und "Raumverdrängern" bedroht wird. 
Die hier über die Jahre angedeutete, schließlich immer weiter verfeinerteEnklavenphilosophie Handkes, so Federmair pointiert, beruht auf der Idee und, zuvor noch, dem Bedürfnis nach einer Autarkie, einer Selbstbestimmung und Selbstgenügsamkeit, die im Notfall der Monopolwelt Widerstand bieten oder zumindest neben dieser durchhalten kann - einer der wichtigen Punkte, die das Jugoslawien-Engagement Handkes und seine vielgeschmähten Betrachtungen vom Belgrader Markt in der "Winterlichen Reise" begründen. Hierzu passt dann das Liebäugeln mit dem Dichter als Erlöserfigur, als Stifter des Bleibenden wider die Frivolitäten der Massenkultur und Federmair zeigt Handkes Sehnsucht, ja Vision einer anderen, zwanglosen, nicht aber verantwortungslosen Gemeinschaft, die sich einst an einem "Volk der Leser" festmachte und dann später in Jugoslawien die "Vereinzelten" im Pathos der Distanzerkannte (und bisweilen idealisierte). Am Ende wird Federmair selber zum Poeten: Sehnsucht nach dem Dorf, ja; Sehnsucht nach Heimkehr. Wissen, dass es keine Heimkehr mehr gibt. Kälte, neue Kälte. Und trotzdem, wider das Wissen, Sehnsucht des Träumers nach dem Neunten Land. Treffender kann man Handkes Movens nicht ausdrücken.
"Kunst der Indirektheit"
Dabei ist Handkes Erzählweise…im Lauf der Jahre zu einer Kunst der Indirektheit geworden, die sich im Modus von Umschreibung und Abschweifung vollzieht, welche sich dann besonders im "Bildverlust" als schier ausufernde Fragemanier zeigt, ein unsichere[s] Erzählen, welches eben auch eine fortschreitende, oft fröhlich anmutende Unsicherheit ausdrückt, die zuweilen inzwischen sogar selbstironisch daherkommt.
Der in den frühen Werken hervorbrechende und -tretende Weltekel (der Figuren) weicht mit der Wende zur positiven Ästhetik einerWeltfrömmigkeit, in der die mystischen Augenblicke Aussicht auf eine poetisch erzeugte, sich zeitigende Dauer bekommen. Hierin zeigt sich vor allem Handkes "Wende" zum "Klassischen" (Hans Höller), die mit der "Langsamen Heimkehr" Mitte der 70er Jahre einsetzte und das sprachkritische Element zu Gunsten des Epischen in den Hintergrund drängte. (Dass diese Entwicklung durch die Jugoslawien-Bücher 1995-2006 mindestens teilweise umgekehrt wird, wird nicht thematisiert.) Plötzlich wird ein In-der-Welt-sein als Geborgenheit und Bergungmöglich. Nicht nur hier "heideggert" Federmair, womit er demonstriert, wie eng Handkes existentialistisches Denken, jenes Weltwerden der Welt zu beschwören, an Heidegger wenn nicht ausgerichtet so doch immerhin angelehnt ist. Etwa, wenn der Apotheker aus Taxham ("In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus") als Figur ohne religiöse oder ideologische Perspektive, allein auf das menschliche Dasein als Wahrnehmung des Seienden bezogen definiert wird. Wobei Federmair eine kleine Schwäche zeigt, in dem er die religiösen (oder, vielleicht treffender, sakralen) Konnotationen Handkes ein bisschen vernachlässigt. Aber dafür gibt es ja Harry Balochs präzise Studie "Ob Gott oder nicht Gott".  
Die epiphanischen Augenblicke sind bei Handke immer wieder bedroht durch Krieg und Gewalt. Sie führen zur Relativierung dieses "geglückten Moments", jenes "nunc stans", des "Daseinszwecks" (um es pathetisch zu formulieren). Und vielleicht ist in der Dualität von Frieden und Krieg, von Gewalt und Sanftmut erst die Friedenssehnsucht möglich - das kommt einem zuweilen in den Sinn. Die Gewalt-Affekte - sei es als Hintergrund oder sogar als direkte Gewaltausbrüche der Protagonisten Handkes -  sind jedenfalls ein Kontinuum im Werk des Schriftstellers. Auch nach der Wende in den 70ern gibt es immer eine gewisse Neigung zur Gewalt in der Prosa, was zugespitzt einmal als ein Pendeln zwischen Amokläufer und Flaneur beschrieben wird. Souverän verknüpft Federmair diese Stellen in Handkes Werk miteinander, etwa wenn er Blochs Mord an der Kassiererin, Losers Tötung des Hakenkreuzschmierers und Gregor Keuschnigs gerade noch unterdrückte Mordlust untersucht. Alle Wege führen hier am Ende zu Valentin Sorger aus der "Langsamen Heimkehr", der zum Spielball der Daseinsdramatik und Opfer innerer Unruhe und somit zum Alter ego Handkes wird. Es ist diese Grundwut, auf die Federmair immer wieder hinweist und die in Handke stetig weiterglimmt. Sie dürfte ein wesentlicher (weiterer?) Antrieb für Handkes Schreiben sein.
Der Tangram-Spieler
Wie ein Tangram-Spieler findet Federmair immer neue, überraschende Kombinationen, Parallelen und Assoziationen, die zuweilen zu überraschenden Schlüssen führen und außergewöhnliche Perspektiven eröffnen. So entdeckt er ein Dreigestirn in Handkes Werk, das sich nicht in einem einzigen Augenblick zeigt, sondern aus einer inzwischen fernen, entschieden provinziellen Kindheit, gleichsam aus der Vorgeschichte des Autors uns seiner Figuren, bewahrt und immer wieder neu gestaltet wird: Bombentrichter, Milchstand und Seesack (aber was ist mit dem Schuhband oder den Spatzen?). In einem anderen Text wird über dieAufgabe der Erzählung im Sinne von Handke referiert. Sie besteht darindie Wirklichkeit des Unscheinbaren zu behaupten und seine Strahlkraft zu sichern. Und so wird ein Bogen zur "Lehre der Sainte-Victoire" und zu Cézanne, dem "Menschheitslehrer" des Protagonisten, geschlagen: Über die Wirklichkeit eines Phänomens entscheidet der, der es durch seine besondere Wahrnehmung oder Verwandlungskunst zu steigern, zu bestätigen, zu kräftigen versteht. Was dann zur Handkeschen Definition des Synästhetischen führt (die Überlagerung von gegenwärtigen Empfindungen und Wahrnehmungen mit Vorstellungsbildern, die sich auf ferne Orte beziehen). Und so springen die Gedanken in diesem Buch nicht vom Hölzchen aufs Stöckchen, sondern vom Hölzchen aufs Hölzchen.
Federmairs letzter Essay über "Handke als Erzieher" versucht einerseits die (private) Rolle als Vater, andererseits dessen eigene Erziehung durch die Literatur und den hieraus auf den Leser ausstrahlenden Einfluss zu bestimmen. Handke sei, so Federmair, im wesentlichen Autodidakt, der sich ohne brauchbare Lehrer (was ist mit Reinhard Musar [der in der "Wiederholung" fiktionalisiert erscheint]?) am eigenen Schopf  durch die Literatur aus dem Sumpf gezogen hat. Ein Verfahren, dass er womöglich seinen eigenen Lesern an die Hand geben möchte (womit nicht gesagt ist, dass sich Handke als einzige Referenz sieht). Hier zeigt sich die H-Maxime(auch als "Handke-Maxime" zu lesen), jener Bezug auf Goethes Gebot, sich "bildsam" zu erhalten - ein immer wieder auftauchender Topos Handkes, der zu seinem Imperativ geworden ist. Und wieder ist es sehr aufschlussreich, wenn Federmair aus seiner ureigenen Lesersicht erzählt, wie Handkes Ethik, in der Beispiele, Vorbilder, Praktiken und Erfahrungen eine größere Rolle spielen als Vorschriften und Regeln in die Gestaltung des eigenen Lebens als "persönliches Kunstwerk" einsickert. Hier zeigt sich, wie der Leser von Handke "erzogen" werden könnte (freilich ein Erziehen bar jeder Pädagogik).
Federmair reflektiert auch auf gängige Einwände gegen Handkes Prosa, konzediert die Möglichkeit, dass die oft zwanghafte Suche nachBedeutsamkeit als überkandidelt wahrgenommen werden könnte. Diese Prosa sei angreifbar, verwundbar, zerbrechlich, ihre Sprache zittert. Handke verzichtet tunlich auf sprachliche Versatzstücke und schafft damitneue Bedeutungen für scheinbar  abgegriffene Wendungen. Man kann dies ermüdend oder abgehoben finden, aber eben nur dann, wenn man, wie Handke zuweilen böse schimpft, ein "Lesefutterknecht" ist, der Sprache eigentlich nur als profanes Transportmittel ansieht.
Alle Essays dieses Buches sind auch unabhängig voneinander les- und sehr gut verstehbar. Sie sind für jeden ambitionierten Handke-Leser eine Fundgrube; es würde den Rahmen dieser kleinen Besprechung sprengen, wollte man alle Facetten, die Federmair anspricht, auch nur andeuten. Auf den narrativ-schwungvollen Stil wurde bereits hingewiesen. Bis auf den (sehr erhellenden) Aufsatz über die Funktion(en) der Konjunktionen UND, ALS und ODER im Werk von Peter Handke, der schon 2009 im "Profile"-Band erschien, sind die Texte sehr aktuell und beziehen Neuerscheinungen bis zum Frühjahr 2012 in die Betrachtungen ein. Man hat am Ende das Gefühl ein Buch in der Hand zu halten, das man immer wieder, noch nach vielen Jahren, als Referenz zu Peter Handkes Werk heranziehen wird. 
Lothar Struck
Die kursiv gesetzten Passagen sind Zitate aus dem besprochenen Buch. Von Lothar Struck ist soeben im Verlag Ille & Riemer das Buch "'Der mit seinem Jugoslawien' - Peter Handke im Spannungsfeld zwischen Literatur, Medien und Politik erschienen.
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»Ja, Peter Handke ist ein Romantiker. Immer noch.«

Lothar Struck über »Peter Handke Freiheit des Schreibens – Ordnung der Schrift« das als Profile Band 16 herausgegeben von Klaus Kastberger erschienen ist
Plötzlich, ganz unverhofft: Auf Seite 5 eine orange-braune Schulheftseite: "Deutsch-Schularbeiten" steht da und darunter "Handke, Peter" und "9c 1956/57". Es ist ein Faksimile eines Aufsatzes vom 19.12.1956 mit dem Titel "Meine Füllfeder". Auf der letzten Seite in roter Schrift "sehr gut".
Dann ein Gespräch (kein Interview!) mit Peter Handke, Elisabeth Schwagerle und Klaus Kastberger. Es geht darum, dass Handke seit 1993 seine Manuskripte nicht mehr mit Maschine schreibt, sondern mit dem Bleistift und meistens draußen. Es geht darum, wie "methodisch" Handke schreibt (hierzu gibt es durchaus Neues). Es geht um das Schreiben als Akt an sich und – Handkes großes Thema – seine Lebens- und Schreibkrise 1979, die sich in "Langsame Heimkehr" so dezent erahnen lässt und auf die er immer wieder zu sprechen kommt. Im weiteren Verlauf des Buches verdichten sich die Anzeichen, dass es damals tatsächlich eine radikale Zäsur in seinem Werk gab (Georg Pichler), vielleicht eine Wende zur Klassik (Leopold Federmair; im Dissens mit Pichler, der Handke für einen Romantiker hält). Dabei sieht Handke selber sein Werk als Kontinuum. Und es könnte sein, dass beide recht haben.
Der 16. Band der "Profile" versammelt fünfzehn Aufsätze von zum Teil illustren Handke-Kundigen, die sich unterschiedlichen Aspekten dieses Werkes widmen. Auf fast 90 Seiten sind Faksimiles ("Werkmaterial") von Manuskripten, Korrekturfahnen und Notizen aller Art (und auch aus den Notizbüchern) aus dem sogenannten "Vorlass" abgedruckt. Handke hatte im Jahr 2007 seine Materialien (mit Ausnahme der Notizbücher, die sich im Deutschen Literaturarchiv in Marbach befinden) an das österreichische Landesarchiv verkauft. In einigen Beiträgen sind tatsächlich bereits Erkenntnisse aus Sichtungen dieser Notizen und Manuskripte eingeflossen, die der Leser in den Faksimiles dann teilweise sogar nachvollziehen kann.
Übersetzungen als WeiterdichtungenZu Beginn beschäftigen sich Fabjan Hafner und Elisabeth Schwagerle mit Handkes Übersetzungen. Hafner, der mit seinem fulminanten Buch "Peter Handke – Unterwegs ins Neunte Land" klug und akribisch die Bedeutung der Kärntner Herkunft des Dichters und die Spiegelung dieser Wurzeln im Werk untersuchte und sich damit als ein profunder und gleichzeitig feinfühliger Kenner gezeigt hat, referiert allgemeiner über die 29 bisher vorgenommenen Übersetzungen Handkes. Erstaunlich, dass der Dichter ausgerechnet mit den beiden ihm nicht so vertrauten Sprachen (dem Slowenischen und Englischen) begann. Hafner stellt heraus welche Bedeutung die Übersetzungen von Florjan Lipuš ("Der Zögling Tjaž"; unter Mitarbeit von Helga Mračnikar) und Gustav Januš (insgesamt vier Bücher hat er von ihm übersetzt) für die slowenischsprachige Literatur besitzen (und auch für Handke selber, der damit die Sprache neu erlernte). Zudem ist diese Übersetzerarbeit auch als ein Zeichen zu verstehen, denn beide Autoren sind keine originär slowenischen Autoren, sondern Kärntner Slowenen (wie Handkes Mutter).
Behutsam entwickelt Hafner eine Art "Übersetzungsgeschichte" von Walker Percys "Der Kinogeher" bis zu den zahlreichen Übersetzungen aus dem französischen, einer Sprache, die Handke perfekt beherrscht (er wohnt seit 1990 in einem Pariser Vorort). 
Hier zeigte sich Handke als Entdecker (beispielsweise George-Arthur Goldschmidt, Bruno Bayen) bzw. Wieder-Entdecker (Emmanuel Bove) von Schriftstellern, wie er dies so oft praktizierte (auch manchen deutschsprachigen Schriftsteller empfahl er nachdrücklich; einige wurden dann tatsächlich von der Kritik angenommen wie Hermann Lenz oder Walter Kappacher – andere blieben eher "Geheimtips" wie Peter Stephan Jungk, Erich Wolfgang Skwara oder Wolfgang Welt). Mit der Übersetzung von Sophokles' "Ödipus auf Kolonos" aus dem Altgriechischen beendete Handke 2003 offensichtlich seine Übertragungen, nimmt man die Übersetzungen der eigenen Texte vom französischen ins deutsche aus ("Warum eine Küche?" [2003] und "Bis daß der Tag euch scheidet" [2007/2008] aus. Hafner mutmaßt, dass die einstige Kraftquelle des Übersetzens, die Handke früher als Motor angeführt hatte, versiegt sei.Elisabeth Schwagerle beschäftigt sich ausführlicher mit den Übersetzungen Handkes von René Char, stellt dafür kurz dessen Leben und Werk vor (er war Widerstandskämpfer in der Résistance und hatte während dieser Zeit seine schriftstellerischen Aktivitäten eingestellt) und erläutert den Status Chars in der französischen Literatur. Sie referiert über die zunächst fast widerwillige Kontaktaufnahme Handkes zu Char (der Übersetzungen eigentlich ohne Hilfe des Autors bewältigen wollte), vergleicht dessen Übersetzungen mit denen von Paul Celan und stellt bei Handke Ungenauigkeiten und Fehler fest, obwohl sie gleichzeitig einräumt, dass Char sehr schwer übersetzbar sei.
Hafner und Schwagerle konstatieren bei Handkes Transkriptionen durchaus Eigenmächtigkeiten des Dichters (die aufgrund seiner Prominenz akzeptiert worden wären), der die Übertragung gelegentlich als eine ArtWeiterdichtung versteht. Während Hafner dies jedoch als "bewusst verfremdende Setzungen" goutiert und deutlich macht, dass es sich nicht um Unkenntnis oder Willkür, sondern um eine verdeutlichend-verfremdende Übersetzungsstrategie handelt, steht Schwagerle diesem Verfahren deutlich kritischer gegenüber, auch wenn sie französischen Kritikern widerspricht, die Handke vorwerfen, er habe Char enthistorisieren (und damit entpolitisieren) wollen.
Poesie und Tatsachen - Miteinander oder Gegeneinander?Etwas gewagt wirkt Schwagerles Versuch, Chars politischen Impetus mit Handkes Jugoslawien-Büchern zu verknüpfen und ein Miteinander von Poesie und Tatsachen als dessen Ideal auszugeben. Zumal sie bei Handke seit 2008 eine Abkehr von Char ausgemacht zu haben glaubt. Auch Leopold Federmair versucht diese "Versöhnung" von Poesie und Tatsachenbericht anhand von Handkes Rede zur Verleihung des Ehrendoktorats der Universität Klagenfurt in 2002 ("Wut und Geheimnis") vorsichtig als eine Wende herauszuarbeiten. Begonnen habe dies, so Federmair, 1993 mit "Mein Jahr in der Niemandsbucht", als sich der Ich-Erzähler Gregor Keuschnig (den er in Bezug auf dieses Buch ein wenig merkwürdig als Keuschnig II in Abgrenzung zur gleichnamigen Figur aus "Die Stunde der wahren Empfindung" bezeichnet) immer mehr als Chronist sehe. Federmair zitiert aus der fast zehn Jahre später gehaltenen Rede die Passage, in der Handke sagt, im Alter gelte seine Sympathie den »Tatsachenberichten« und der »kruden Historie«, während er früher die »Poesie« vorgezogen habe. Liest man die Rede im Zusammenhang, so ergibt sich ein leicht anderes Bild. Handke empfiehlt zunächst die Lektüre von drei genuin literarischen Büchern von Kärntner Slowenen, die sich mit dem politischen Widerstand gegen den Nazismus aus unterschiedlichen Perspektiven beschäftigen. Bei dieser Lektüre der Bücher ergibt sich für Handke bei aller literarischen Fiktionalität eine Art Zeugnis-Charakter und er entdeckt: »Zuerst, als du jung warst, hast du die Poesie den Tatsachenberichten, der kruden Historie vorgezogen. Und jetzt, als älterer Mensch, bist du versucht, wieder die kruden Tatsachengeschichten, wie die der Kärntner Partisanen, auszuspielen gegen das dichterische Sich-Ausdrücken.« Diese Stelle nimmt Federmair zum Anlass für seine These. Handke will jedoch Poesie und Tatsachengeschichte nur nicht mehr gegeneinander ausspielen und bilanziert demzufolge: »Das ist genauso falsch. Beides gehört zusammen. Beides sollte und muss zusammen gelesen werden.«
Also doch eine Kehre? Nein. Denn wenn Handke in seiner Büchnerpreisrede 1973 die »begriffsauflösende« und »zukunftsmächtige Kraft« des »poetischen Denkens« geradezu beschwört und 23 Jahre später im Dialog mit sich selber in "Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien" vom Poetischen als das »gerade Gegenteil« vom »Nebulösen« spricht und dies mit dem »Anstoß zum gemeinsamen Erinnern, als der einzigen Versöhnungsmöglichkeit für die zweite, gemeinsame Kindheit« bestimmt, so sind damit gerade nicht die üblichen Bedeutungen von "Tatsachen" oder "Fakten" gemeint, wie sie im Journalismus oder der Geschichtsschreibung verstanden werden.
Journalismus-UtopieDies zeigt Hans Höller in einem sehr schönen Essay anhand der Erzählung "Die Kuckucke von Velika Hoča". Parallel zum in dieser "Nachschrift" virulenten Humor, der sich zum Beispiel darin zeigt, dass ausgerechnet der Autor des Theaterstückes "Das Spiel vom Fragen" gleich am Anfang das Interview-Scheitern eingesteht (und am Ende es dann doch zu einem solchen "Interview", freilich einem anderen, kommt), entwirft Höller Handkes "Journalismus-Utopie". Dabei wird deutlich, dass der eher ruhigere Ton in diesem Buch keinesfalls eine Annäherung auf die in den anderen Büchern so gescholtenen Journalisten darstellt. Nach wie vor hat Handke (s)eine eigene Vorstellung von Journalismus und Tatsachenberichten, die Höller aus der Tradition unter anderem Heinrich Heines ableitet.
Guter Journalismus ist für Handke, so Höller, genaue[s], aufmerksame[s] Erzählen der Alltäglichkeit. Durch das Aufgeschriebene, die Nachschrift,erhält das Subjektive und Vergängliche eines Augenblicks Dauer und bekommt dadurch eine Zukunft. Eng korrespondiere dies mit Handkes Schreibideal, die Aufmerksamkeit für die konkrete, alltägliche Lebenswelt des Hier und Heute, die Beteiligung des wahrnehmenden Ich an bzw. in der Welt.
In diesem Moment (und erst dann!) bringt Handke, so die These, das Poetische und das Politische zusammen. Das ist mehr als das Herunterleiern von Allgemeinplätzen. Es ist mehr als das bloße Aufzählen von (oft genug ungeprüft wiedergegebenen) "Fakten", die sogleich derart interpretiert werden bis sie die eigene Gesinnung, das längst fertige (Vor-)Urteil, bestätigen. Was zählt ist die »Augenzeugenschaft« und das, was man daraus macht. Dann "zeigen" sich die Dinge im Wittgenstein'schen Sinn.
Bernhard Fetz nimmt in seinem Beitrag über die balkanische "Geographie der Träume" in Bezug auf Peter Handkes Erzählung "Die morawische Nacht" diese Programmatik wieder zurück. Er sieht Handke in der Nachfolge Doderers als jemand, der Historie in Erzählung…versinnlichenmöchte; freilich unideologisch. Zwar konstatiert Fetz, dass Handke andere Formen der Wirklichkeitsanschauung praktiziere (er formuliert dies als eine speziell österreichische Sichtweise und führt zahlreiche Kronzeugen hierfür an). Seine These von der Revolutionierung hergebrachter Erfahrungs- und Subjektbegriffe durch literarisch-essayistisch-journalistische Mischformen im allgemeinen und in der "Morawischen Nacht" im besonderen, dürfte jedoch zu weit gehen, auch wenn er dies aus der Erzählung mit einem Zitat glaubt abzuleiten zu können.

Literaturpolitik?Und auch die Literaturpolitik, die er Handkes Jugoslawien-Büchern, die erEssays nennt, erscheint zu beliebig: Sie seien literarisch und politisch, an den Bruchlinien zwischen Journalistik und Literatur (er nimmt hier abermals die "Morawische Nacht" ein). Die literarische Uneindeutigkeit im Sinne Handkes ist ein politischer Standpunkt stellt Fetz fest, was letztlich auf den banalen Schluss hinausläuft, dass irgendwie alles politisch sei.
Der Autor macht aus Peter Handke (bzw. seinen Protagonisten) einenRückkehrer (Heimkehrer wäre das treffendere Attribut gewesen) in der Tradition Hugo von Hoffmannsthals ("Briefe des Zurückgekehrten"), der am Ende sein Märchenland (die multikulturelle Ökumene "Jugoslawien" - Alexander Honold), was es so nie gegeben hat, vermisst und berücksichtigt dabei leider Fabjan Hafners Nachforschungen nicht. Gegen Ende räsoniert Fetz ein wenig gönnerhaft, dass gerade die verstockte, hartnäckige, scheinbar wider jede politische Vernunft sich stellende  'andere' Wahrnehmung Handkes "Jugoslawien"-Bücher so aufregendmache. Und auch die durchaus im Kern zutreffende Bemerkung, in der "Morawischen Nacht" werde die poetische Balkanisierung als…gesamteuropäische Utopie betrieben ist bei genauer Kenntnis des Werkes Handkes spätestens seit "Über die Dörfer" ein immer wiederkehrender Topos, wie beispielsweise Leopold Federmair herausstellt, der in Handkes Prosa eine Einheits- und Harmonie-Vision erkennt, die sich ein anderes, ein friedfertiges, sanftes Europa jenseits institutioneller Zuordnungenwünscht.
Katharina Pektor untersucht die Entstehung der Erzählung "Der Chinese des Schmerzes" (1983) und findet hierzu in den überlassenen Notizen, Manuskripten und Korrekturfahnen etliche Details, die im umfangreichen Bildteil des Buches begleitend nachzuschlagen sind. Dabei ergeben sich durchaus ergänzende Erkenntnisse, die gelegentlich auch neue Interpretationsräume öffnen, die nicht nur von philologischem bzw. literaturwissenschaftlichem Interesse sind.
Erzählen ist kein NacherzählenIn Ihrem Aufsatz entwickelt Pektor am Erzählgestus des "Chinesen des Schmerzes" fast en passant eine Art poetologisches "Konzept" der Prosa von Peter Handke: Aktualität und Realismus manifestieren sich nicht in der "Geschichte" oder Handlung, sondern in der Sprache und im Erzählen. Das heißt: Erkenntnis der Wirklichkeit kommt nicht vom Erfassen der Dinge (der Natur, der Außenwelt) selbst, sondern im Gewahrwerden der jeweils eigenen (subjektiven) Erfahrung der Dinge im objektiven Medium der Sprache. Dem Dingen beim Erzählen gerecht zu werden, bedeutet in der Folge auch nicht, sie beschreibend "nachzuahmen" […] oder "nachzuerzählen" […], sondern die eigene (innere) unwillkürliche und vorerst formlose Wahrnehmung und Empfindung der Dinge sprachlich (formal) möglichst genau zu rekonstruieren und sie dabei zugleich zu abstrahieren, dass eine (trotzdem immer konkret bleibende) Grunderfahrung darin deutlich wird.
Der Gegenstand, die Beobachtung wird zum Auslöser eines Reflexionsprozesses und dabei im Erzählen verfremdet, umgeformt, ja verbogen. Erzählung ist nicht bloß "Abbild" des Geschehenen, sondern Sprachwerdung des Empfindens, die jedoch ständig befragt werden kann und sogar muss (Erzählung ist demnach nie "vollkommen", es bleibt Prozess; die Suche nach dem "richtigen Wort", dem richtigen Begreifen). Georg Pichler zitiert Rolf Günter Renner (1985), der die Erinnerung "als eine Form der poetischen Phantasie, welche die Außenbilder und die Innenbilder aneinander vermittelt" bezeichnete. Pichler weiter: DasSchreiben muss aus der Erinnerung vor sich gehen, aus der im doppelten Sinn zu verstehenden geistigen Wiederholung der Welt, wobei das Zufällige der Welt nur dann Zusammenhang und innere Logik erhält, wenn es durch ebendiesen Prozess der Erinnerung gestaltet wird. Diese Erinnerung ist exakt das Gegenteil der Nur-Rekonstruktion von faktentreuer Authentizität – sie ist Literatur.
Als Kontrast zu Pektors literaturwissenschaftlichem Ansatz kann man Thomas Deichmanns eher journalistischen Aufsatz über die zahlreichen Reisen mit Peter Handke (Reisen mit ihm sei erlebte Literatur) in das ehemalige Jugoslawien seit 1996 lesen, in dem er unter anderem die Verarbeitung realer Personen und Erlebnisse in den Erzählungen und Notaten Handkes sucht, findet und (manchmal mit einem gewissen Gestus) "enthüllt" (etwa die Person des "Waldläufers" in Handkes "Fahrt im Einbaum" – es ist der wegen Beihilfe zum Mord verurteilte Novislav Djajić; beiden Reisenden aus mehreren Begegnungen bekannt). Deichmann, der nicht unbedingt in jedem Punkt Handkes Stellungnahmen zum Jugoslawien-Konflikt teilt, ist stark beeindruckt von dessen Sachkenntnis, welches er aus dem detaillierten Studium mehrerer, internationaler Zeitungen und eben den Anschauungen auf seinen Reisen gewinnt.
Neben dem arg "realitätsbezogenen" Zuordnen und Beobachten zitiert Deichmann am Schluss seines Aufsatzes aus dem Roman "Der Bildverlust" die Stelle die fast exemplarisch für die Handke-Rezeption insbesondere der (sogenannten) Jugoslawien-Bücher ist und Pektors Ansatz fortzuschreiben scheint. Die Bankfrau antwortet dem Autor, warum sie ihn»als Erzähler ihrer Reiseabenteuer« ausgewählt habe: »Auch wenn Sie vielleicht ab und zu das eine oder das andere in Ihren Büchern erfunden haben, und vielleicht sogar alles (das zu wissen interessiert mich keinen Deut): Insgesamt haben Ihre Geschichten immer gestimmt und bleiben insbesondere bis auf weiteres stimmig, unendlich stimmiger oder realer als gleichwelche Tatsachenberichte, und waren und sind ebenso unvergleichbar realer als jedes angeblich handgreifliche und reichbare Realitätsprozedere.«   
Die NotizbücherErste Resultate aus Sichtungen und (vorläufige) Katalogisierungen der insgesamt 66 Notizbücher Peter Handkes lassen sich im Text von Ulrich von Bülow nachlesen. Die Notizbücher umfassen auf mehr als zehntausend beschriebenen Seiten (maximales Format ist DIN-A6) den Zeitraum von November 1975 bis Juli 1990 (sie sind nicht lückenlos; Handke hat einige Bücher verloren und/oder verschenkt).
Von Bülow erläutert, dass es sich keinesfalls um private Tagebücher im klassischen Sinne handelt, sondern (hier zitiert er Handke selber) um»Reportagen« von »Sprachreflexen«, die Sprachspiel-Charakter besitzen und von »jeder Privatheit befreit und allgemein« sind. Die genaue Lektüre zeigt manchmal die Arbeitsschritte an den einzelnen Büchern an und dokumentiert deren Werkstattcharakter.
Etliche Eintragungen sind zwar datiert (in den Veröffentlichungen wurden ein Datum nur sehr sporadisch an das Ende gesetzt), aber losgelöst vom realen Tagesereignis. Aus den Notizbüchern erschienen fünf Bücher: "Das Gewicht der Welt" (die Zeiträume von November 1975-März 1977 umfassend; 1977 erschienen), "Die Geschichte des Bleistifts" (1976-1980; 1982), "Phantasien der Wiederholung" (1981-1982; 1983), "Am Felsfenster morgens" (1982-1987; 1998) und Gestern unterwegs(November 1987-Juli 1990; 2005). Interessant der Hinweis, dass der Text in den Bänden "Phantasien der Wiederholung" und "Am Felsfenster morgens" am stärken komprimiert wurde, und zwar etwa im Verhältnis 4:1. Jetzt wird langsam deutlich werden, welche Aufzeichnungen Handke nicht veröffentlichte. (Leopold Federmair weist übrigens in seinem Beitrag darauf hin, dass in den veröffentlichten Journal-Texten am Ende der einzelnen Einträge immer der Punkt fehlt, so dass ein leiser Eindruck von Abgerissenheit und von Ungesagtem entsteht.)
Von Bülow greift auch scheinbare Nebeneffekte dieser Journale auf: Es gibt Zeichnungen (manche überwuchern sie dann die Texte, die dann sehr schwer lesbar sind); besonders bewegend eine (in den Materialien gezeigte) Zeichnung von Nicolas Born auf dem Sterbebett. Manchmal sind auch Gegenstände eingeklebt (zum Beispiel Vogelfedern oder Kassenbons). Und mitunter gibt es sogar Eintragungen anderer Personen und auch Handkes Tochter Amina (1969 geboren) verewigt sich mitSchreibübungen und Zeichnungen.
Interessante Vermutungen weiß der Autor Handkes Affinität zum Bleistift anzustellen (viel substantieller als Michael Hansel in einem eher mittelmäßigen Aufsatz vor von Bülows Text), der als eine Art Metapher der Zeit gesehen werden könnte (zum Beispiel durch dessen begrenzte Lebensdauer), obwohl in den Journalen auch Filz- und Kugelschreiber verwendet wurden. Der Bleistift spielt jedoch in zweierlei Hinsicht für Handke die entscheidendere Rolle: Zunächst zwingt er zur Langsamkeit (ein essentielles Anliegen Handkes) und dann ist er für Zeichnungen prädestiniert. So wird der Bleistift das Medium, um körperliche Wirklichkeiten mittels Zeichnung zu "lesen" und mit Anschauungen verbunden werden.
Es gibt nicht wenige Leser, die Handkes Notate für die Perlen in dessen Werk halten. Von Bülows Fazit, die Notizbücher seien Hilfsmittel einer auf das Schreiben ausgerichteten, experimentierenden Lebensführung ist unbedingt zuzustimmen. Sie dienten, so der Autor weiter, der Reflexion wie der ästhetischen Selbsterziehung, als Laboratorien für Lesarten und Formulierungen, als Ideen- und Bildspeicher und als Mittel, um jenen poetischen Wachzustand zu erreichen, der für den Autor einem Zustand nahekommt, den er Glück nennt. Vor diesem Hintergrund scheint es schwer vorstellbar, dass Handke das Notieren sozusagen eingestellt haben und nach 1990 keine Notizbücher mehr existieren sollten.
Raimunds "Rappelkopf" und Handkes Wilder Mann Bernhard Doppler sucht und findet in seinem Aufsatz Parallelen zwischen Ferdinand Raimunds "Rappelkopf" aus "Der Alpenkönig und der Menschenfeind" und den Protagonisten (aber auch in Handkes Person selber) insbesondere (aber nicht ausschließlich) in Handkes Theaterstücken, wobei er ein Kontinuum von der "Publikumsbeschimpfung" (1967) und dem "Wilden Mann" aus dem "Untertagblues" (2003 herausarbeitet. Der Kritik wirft er vor, in den Wutausbrüchen in Peter Handkes Werk die Abgrenzung zur Melancholie zu wenig herauszuarbeiten.
Doppler gibt auch einen kurzen Überblick über das (jüngere) dramatische Werk Handkes (Stücke wie "Das Spiel vom Fragen" oder "Zurüstungen für die Unsterblichkeit" nennt er Zumutungen für jeden Theaterbetrieb) und der durchaus reservierten Kritikermeinungen hierzu. Neben Nestroy und Tschechow sind die zahlreiche Bezüge zu Ferdinand Raimund auffällig, wobei Doppler als Differenz zu Raimund die Ironisierungen in den Figuren (und damit auch Handke selber) sieht, die immer wieder einfließen (beispielsweise im "Spielverderber" im "Spiel vom Fragen", der seinem Antipoden, dem "Mauerschauer" gelegentlich geradezu Vorlagen zur Selbstironisierung zu geben scheint). So beuge Handke drohendenSakralisierungen vor (die ihm dennoch von der Kritik häufig unterstellt werden), was vielleicht durch die bisweilen unernsten Inszenierungen (oft wurden die Uraufführungen von Claus Peymann inszeniert) befördert wurde; letzteres berücksichtigt Doppler nicht. (Und auch das Auftauchen von Raimund in der "Morawischen Nacht" kommt nicht bei ihm vor.)
Dennoch ist dies ein sehr interessanter Aufsatz, der zu dem verblüffenden Schluß kommt: Die Wut und der Verfolgungswahn bei Raimunds Menschenhasser sitzen tiefer – gerade in allen Anstrengungen der Harmlosigkeit – als bei Handkes Wilden Männern. Möglicherweise sind die Rollen sogar umzukehren. Der Wilde Mann ist gar kein Spielverderber, sondern bleibt der Mauerschauer…
Raimund Fellinger berichtet über Entstehung von "Mein Jahr in der Niemandsbucht" (auch hierzu gibt es im Fototeil Material) und "enthüllt", dass der Presse-Vorschautext des Verlages zu diesem Buch fast zu einem Zerwürfnis mit Handke geführt hätte (er war Handke zu bombastisch ausgefallen). Klaus Kastberger referiert über "Peter Handke und das Salz" anhand der Erzählung "Kali – Eine Vorwintergeschichte". Kastberger dokumentiert die Prospekte der Firma "Kali und Salz", mit denen sich Handke informiert hat und zeigt damit, dass der Titel der Erzählung mit der indischen Göttin "Kali" nichts zu tun hat. Karl Wagner versucht die heftige Ablehnung Handkes zu Robert Musils "Mann ohne Eigenschaften" zu erklären, entdeckt allerdings überraschenderweise durchaus eine vergleichbare Haltung [in] der Kritik an den falschen Oppositionen von Verstand und Gefühl und an der zum Denksystem und Aufklärungsfimmel pervertierten aufklärerischen Vernunft um dann doch am Ende die unüberbrückbare Differenz festzustellen: Der entscheidende Unterschied…besteht darin, dass Handke, hochgradig selbstreflexiv, auf das Erzählen setzt während Musil eher der Wissenschaftlichkeit verpflichtet scheint.
Etwas kryptisch, weil in reichlich Germanisten-Jargon verpackt bleibt (leider) Alexander Hunolds Aufsatz "Entzifferung der Ökumene", wobei die ursprüngliche Bedeutung des Ökumene-Begriffs als gemeinsam gestaltete[r] Lebensraum und der Gegensatz, die Diaspora als Vorgänge der räumlichen Zerstreuung zunächst vielversprechend erscheint. Anhand der Übersetzung von Sophokles' "Ödipus auf Kolonos" und Handkes Erzählungen "Die Lehre der St. Victoire" und "Die Wiederholung" versucht Hunold sein Schreiben als eine genuin ortsverbundene Entzifferung des Raums der Ökumene (siehe oben!) herauszustellen. So stehen die in den Erzählungen genannten Orte immer pars pro toto, d. h. es handelt sich nicht nur um die genannten Orte selber, sondern um sozusagen repräsentative Orte; Orte der Literatur.
Goethe - Erst Negation, dann Schreib-Ahne  Auf zwei ausgezeichnete Aufsätze, die neben von Bülows Bemerkungen über die Notizbücher zu Höhepunkten in diesem Buch zählen, sei abschließend hingewiesen. Zum einen handelt es sich um Georg Pichlers Arbeit über die Positionierung Handkes zu Goethe. Zunächst stand Handke Goethe und seiner Ästhetik durchaus skeptisch gegenüber und gerierte sich als dekonstruierender Sprachskeptiker, was durchaus die Goethe-Rezeption inkludierte. Mitte der 1970er Jahre wandelte sich jedoch Handke langsam und zunächst kaum merkbar zu einem Sucher nach einem harmonischen Bezug zwischen Ich und der Welt (wobei dieser Impetus - Pichler erwähnt dies - nicht ohne Häme bemerkt wurde). Die Erzählung "Die linkshändige Frau", kurz vor einem Krankenhausaufenthalt des Autors 1976 fertiggestellt, macht Pichler als Schwelle in Handkes Beziehung zu Goethe aus (nicht als "Kehre" - Pichler verwendet bewusst Handkes Topos der Schwelle), der von der Form der Negation nun der absolut positiv besetzte Schreib-Ahne werden sollte, dessen poetologische Positionen Handke als Ausgangspunkt dienen, um darüber hinauszugelangen, und auf den in zahlreichen Werken auf unterschiedliche Weise angespielt wird. Handke nahm nun als erste Referenzgröße…nicht eben bescheiden…bei Goethe Maß. (Inzwischen wurde diese Referenz von Handke höchstens nur noch als Andeutung bemüht.) Ausführlich zeigt Pichler anhand von Wim Wenders Film "Falsche Bewegung", zu der Handke das Drehbuch schrieb und der bereits 1975, also ein Jahr vor "Die linkshändige Frau", in die Kinos kam, die Parallelen, aber auch die Differenzen zu Goethes Wilhelm Meister-Romanen (besonders den "Lehrjahren") auf. Ganz nebenbei gelingt es Pichler tatsächlich, beim Leser ein Verlangen auf ein Wiedersehen dieses Films zu erzeugen. Die Unterschiede zu Goethe, die von Handke durchaus gesetzt sind und nicht auf Unkenntnis resultieren, liegen auf zwei Ebenen. Zum einen verweist Pichler auf das Problem des referenziellen Schreibens bei Handke. Wo Goethe sich noch unmittelbar beispielsweise geologischen Phänomenen widmen konnte, ist Handkes Geologenerzählung "Langsame Heimkehr" immer auch Referenztext. Zum anderen verweigert sich Handke dem klassischen Bildungs- bzw. Entwicklungsroman (was Pichler beispielsweise sehr schön an den Zufälligkeiten, welche den Protagonisten im Laufe der Erzählung "zustoßen", zeigt. Bei Goethe werden sie als Fügungen nachträglich mit Sinn unterlegt und Wilhelms Weg als zweckbestimmt gezeigt, während sie bei Handke den Protagonisten die Ereignisse eher treiben; es sich eher um Taumelnde handelt, deren Wege tatsächlich zufällig sind.
Handke bleibt, so Pichler, Romantiker; die Rolle des Klassikers ist (und bleibt) durch Goethe belegt. Handkes Text thematisiert nicht den Eintritt eines jungen Menschen ins gesellschaftliche Leben, sondern seinen Austritt aus ihm. Wobei nicht ausgemacht ist, ob dies wünschenswert ist oder eher erzwungen, west doch in vielen Erzählungen Handkes immer wieder neben der Tendenz zur Distanzierung von anderen Menschen gleichzeitig auch der unterschwellige (!) Wunsch nach Gemeinschaft mit (freilich nicht in einer primitiv-volkstümelnden Weise). Könnte es nicht sein, dass derAustritt aus der Gesellschaft, den Handkes Wilhelm vollzieht, Ergebnis einer gescheiterten Gemeinschaftserfahrung ist und das dies die "falsche Bewegung" ist? Pichler verfolgt diese Spur in seinem sonst sehr schönen Essay nicht.
"Zusammenhang, Verwandlung und Frage" - UND, ALS ODERLeopold Federmairs ausgezeichneter Aufsatz beschäftigt sich mit der Bedeutung der Konjunktionen UND, ALS und ODER bei Peter Handke. Die drei Partikel werden mindestens seit "Langsame Heimkehr" nicht nur besonders häufig gebraucht, sondern gestisch hervorgehoben, was insbesondere für das UND gilt. Sie fungieren, wie Federmair nachvollziehbar ausführt, als narrative Einheiten, die das Erzählen, welches sonst droht, sich in einer "unklassischen" Fragmentarik zu erschöpfen, zusammenhält. Die drei Wörtchen lassen sich an ästhetische Konzepte Handkes anschließen, die mit den Schlagworten Zusammenhang, Verwandlung und Frage benannt werden können.
Neben der eher schlichten Funktion als Rhythmusgeber fungiert das emphatische UND (speziell in den Journalen, die FedermairAufzeichnungsbücher nennt) einerseits als ein Ansatz zum Erzählen, meist im Vertrauen darauf, dass die Fragmentarik das wahrnehmende Subjekt nicht zerstören wird. Andererseits kann es die Ähnlichkeit zweier Elemente zeigen, aber ebenso das Nebeneinander von Unterschiedlichem und das damit Besondere festhalten. Es werden treffende Beispiele aufgeführt, wie das UND ein Miteinander  von Phänomenen, Ereignissen erzeugt, zum Beispiel der Journal-Eintrag: »Der Klang der Maultrommel, und die zitternd sich öffnenden Flügel des Schmetterlings auf einem sonnigen Waldweg.« (Handke weist durch die Parenthese »('und')« noch auf dieses Verfahren hin; typisch für diese Form der Eintragungen). Durch das UND wird aus den beiden, miteinander nicht (kausal) in Verbindung stehenden Ereignissen sozusagen ein drittes herbeiphantasiert und ein damit ein neuer Zusammenhang konstituiert. Die festgehaltene Ähnlichkeit wirktdann im Dienste einer grösseren Einheits- und Harmonie-Vision.
In anderen Fällen dient es in als "Hervorbringer" von Ähnlichkeiten…, die der Autor-Betrachter implizit dem Wahrgenommenen zuschreibt, damit durchaus einen Abbildungsanspruch erhebend. Federmair bemerkt, dass Handke das derart Wahrgenommene oft auch gleich immer in Frage stellt und durch andere Konzepte, etwas das des Fantasierens, ergänzt. Dies geschieht nicht nur in den Journalen, sondern spätestens seit dem Drama "Das Spiel vom Fragen" auch zunehmend in den Erzählungen und Theaterstücken selber. Hier kommt dann auch das ODER zur Anwendung, welches Zweifel oder mindestens Zögern ausdrücken soll. Diese Form der im laufenden Text vorgenommen (Selbst-)Befragungen positioniert sich den immer schon Wissenden und mit dem Wissen protzenden Schreibern bewusst antipodisch entgegen und ist für den durch allerlei Behauptungsprosa konditionierten Leser zunächst durchaus gewöhnungsbedürftig.
Federmair konstatiert sogar die Fragesätze in Handkes Prosa als eineTriebkraft seines Erzählens, das nicht am Leitfaden einer Geschichte voranschreitet, sondern an dem der Zweifel und des Zögerns vor verschiedenen Möglichkeiten. Es sei ein zunehmend unsicheres Erzählen, welches Handke in seinem Spätwerk vorführe (wobei er dies nicht abwertend versteht). Ergänzend sei vielleicht erwähnt, dass es sich dabei nicht (mehr) primär um einen sprachkritischen Gestus handelt, sondern eher um eine Selbstvergewisserung, die mit der Befragung der eigenen Wahrnehmung bzw. Wieder-Holung einhergeht.
Und das ALS ist bei Handke ein Signum der Verwandlung, die der geistigen Tätigkeit des Fantasierens entspringt – der "Einbildungskraft", wie die Ästhetik des 18. Jahrhundert es nannte. Es findet in Handkes "Märchen"-Prosa mehr Anwendung als in den Journalen, aber die Erläuterungen Federmairs zeigen, dass  Zusammenhang, Verwandlung und Frage nicht einfach den einzelnen Konjunktionen zuzuordnen, sondern das die Übergänge und Berührungen fließend sind (somit durchaus "im Sinne" der Handkeschen Prosa).
Federmairs Aufsatz endet mit dem berühmten Novalis-Zitat, die dieErzählpoetik Handkes auf bestechende Weise zu charakterisieren scheint:"Indem ich dem gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es."
Ja, Peter Handke ist ein Romantiker. Immer noch.
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Die Aufsätze in diesem Band sind bis auf wenige Ausnahmen aufschlußreich und anregend und weitgehend von wichtigtuerischem Germanistenton befreit. Die Verbindung mit den zahlreichen Faksimiles aus Handkes "Vorlass" ist sehr gut gelungen und stellt eine Bereicherung dar. Die Sichtungen der Materialien steht offensichtlich erst am Anfang. Insofern stellt dieses Buch eine Art Zwischenstation dar. Dennoch sollte es bei keinem ambitionierten Handke-Leser fehlen. Lothar Struck





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 Bericht aus der Akademie

Im Dezember dieses Jahres wird Peter Handke 70. Das war dem Deutschen Literaturarchiv in Marbach Anlass, einen der wichtigsten Schriftsteller der Gegenwartsliteratur mit einem Forschungstreffen unter dem Titel »Stationen, Orte, Positionen: Peter Handke« zu würdigen.


Lothar Struck, unser Fachmann für Peter Handke, war die zwei Tage vor Ort.
Zwei Tage stand Marbach für Handke-Exegeten und solche, die sich dafür halten, im Mittelpunkt. Unter dem etwas sperrigen Titel Stationen, Orte, Positionen: Peter Handke" wurde das "1. Forschungstreffen Suhrkamp/Insel" ("unterstützt durch Hubert Burda") im deutschen Literaturarchiv abgehalten. Man tagte – und stritt, und das einigermaßen heftig.    
Letzteres war vorprogrammiert, hatte man doch mit Jürgen Brokoff als Referenten über die "Jugoslawien-Texte" eine Person ernannt, der Handke mutwillig missverstehend vor anderthalb Jahren als "serbischen Nationalisten" beschimpfte. (Der intellektuelle Ehrensold für diese FAZ-gemässe Attacke zeigte sich wenige Tage später in einer Hymne auf Brokoffs Buch Geschichte der reinen Poesie. Honi soit qui mal y pense). Brokoffs Vortrag am Ende des ersten Tagungstages sprengte dann auch fast wörtlich die Veranstaltung. Zum einen musste das Programm umgestellt werden, da die anschließende Diskussion (oder das, was man dafür hielt) kein Ende finden wollte, andererseits jedoch Ulrich Greiner und Sibylle Lewitscharoff zum Gespräch baten. Und zum anderen blieb die Atmosphäre für den Rest der Veranstaltung gespannt.
Da war denn schnell der Auftakt vergessen. Der anekdotisch-komödiantische Auftritt mit Hubert Burdas emphatischen Schilderungen über seine Freundschaft zu Handke und dessen Ausrasten bei der nicht ganz unberechtigten Frage, was denn nun der "Bildverlust" wirklich sei. Burda wusste wohl nichts von jener fast legendären Publikumsbeschimpfung Handkes nach einer Aufführung des "Spiels vom Fragen", in der er Anfang der 90er Jahre die Frage eines Zuschauers, worüber das Stück eigentlich handele mit rustikalen Empfehlungen ("Geht's doch scheißen!"), wüsten Beschimpfungen ("Ihr Wichte") und Handkantenschlägen gegen das Mikrophon quittierte. (Nebenbei: Man sollte ernsthaft überlegen eine Fernseh- oder Radiosendung mit dem Titel "Hubert Burda erzählt" einzurichten; dieser Mann kann einfach wunderbar Anekdoten vortragen.)
Danach begab sich Hans Höller auf eine Spurensuche zu Handke als klassischer Autor. Schließlich suchte Ulrich von Bülow in den Notizbüchern Handkes akribisch nach der Verbindung Handkes zu Heidegger und berichtete (und zeigte) Handkes Heidegger-Zitate, um dann insgesamt festzustellen: Handke zitiert und paraphrasiert den Philosophen nicht systematisch. Zwar habe er nachweislich einige Aufsätze von ihm (beispielsweise "Bauen Wohnen Denken") nebst einiger Sekundärliteratur gelesen, "Sein und Zeit" jedoch nicht (so Handke persönlich zum Referenten). Dies könne insgesamt "kaum als Einfluss" ausgelegt werden, so die These. Offen blieb dabei, ob die zuweilen dann doch gelegentlich prominent eingestreuten Termini Handkes (wie das "Verbot der Sorge" als Pablos Gesetz oder der Topos des Wohnens als Urform des Existierens im "Versuch über den geglückten Tag") nicht doch vielleicht mehr als nur Sprachspiele des Dichters sind.
Anschließend stellte Katharina Pektor die Bedeutung von Wolfram von Eschenbachs "Parzival" in Handkes Prosa als stärker als bisher angenommen heraus. Sie entdeckte "zahllose Referenzen" (u. a. auchbiografische Parallelen zwischen Handke und  Eschenbach, die dann doch etwas konstruiert erschienen). Besonders konzentrierte sich Pektor auf "Die Abwesenheit" und "Das Spiel vom Fragen". Im Theaterstück gibt es nicht nur in der Figur des "Parzival" (zu Beginn eine Art eine Art hyperaktiver Kaspar Hauser; erinnernd durchaus an Handkes "Kaspar") sondern auch indirekt  Nachweise zu Eschenbach-Motiven (die Figurenkonstellationen in beiden Texten). Dass ausgerechnet in diesen beiden Werke auch eine Art gesellschaftspolitischer Utopie Handkes über das Zusammenleben von Menschen steckt, blieb leider unberücksichtigt.         
Die Notizbücher als Steinbruch
Bereits diese beiden Vorträge illustrierten wie die Notizbücher Handkes, aus denen die Journal-Bände zwar hervorgingen, jedoch nur ein kleiner Teil publiziert wurde (vgl. den Aufsatz von Ulrich von Bülow "Die Tage, die Bücher, die Stifte. Peter Handkes Journale" in: Profile 16, hrsg. v. Klaus Kastberger, eine neue, sprudelnde Forschungsquelle für Interpretationen geworden sind und noch sein werden. Damit rückt allerdings zwangsläufig eine bestimmte Schaffensperiode in den Vordergrund, denn zur Forschung sind bisher ausschließlich die 66 Bücher von 1975 bis 1990 freigegeben. Die späteren Notizbücher, die sich (meinen Informationen gemäß) ebenfalls bereits in Marbach befinden, sind noch "Verschlußsache". Malte Herwig, der zu Zeiten seiner Recherchen zur Biographie "Meister der Dämmerung" diese Hefte damals noch in Handkes Haus einsehen konnte, bemerkte, dass diese Aufzeichnungen neben dem bekannten Werkstattcharakter auch private und intimere Passagen ausweisen und womöglich fast eine andere Kategorie darstellen. Philologisch interessant sind sie vor allem deswegen, weil in diesem Zeitraum die als Jugoslawien-Texte apostrophierten Bücher entstanden sind und sich sicherlich zahlreiche "ungefilterte" Eindrücke und Reflexionen der diversen Reisen Handkes finden lassen würden. 
Wie vermint der Umgang mit dem Serbien-Engagement Handkes ist, zeigte der Vortrag von Jürgen Brokoff, der von einigen Teilnehmern verblüffenderweise als "ausgewogen" bezeichnet wurde. Dabei verstand es Brokoff meisterhaft, Zitate von Handke zu entkontextualisieren und zu Sklaven seiner These zu machen: Er, der Dichter, sei mit seiner "Medienkritik" (die in Wahrheit natürlich eine Sprachkritik ist – was Brokoff unzulässig vermengt) dann doch übers Ziel hinausgeschossen, so die Quintessenz (durchaus in richterlichem Gestus vorgebracht). Zwar findet Brokoff (leicht gönnerhaft attestiert) diskussionsfähige "Ansätze" in den "Texten", aber etliche Male fiel dann das präjudizierende Füllsel "problematisch" – ohne dieses "Problematische" konkret zu benennen. Das war zwar insgesamt besser als seine Beschimpfungen ad hominem vom Sommer 2010 (s. o.), aber auch perfider, weil er oft genug das verschwieg, was den Zitaten vor- oder nachgeordnet war.
»Grauenhaft«
Die ganze Dimension des politischen und auch gesellschaftlichen Sehnsuchtsraums Jugoslawien für Handke ignorierte Brokoff alleine schon dadurch, dass er in seiner Aufzählung der inkriminierten Texte weder "Die Wiederholung" (1986) noch "Zurüstungen für die Unsterblichkeit" (1997) und auch das Partisanendrama "Immer noch Sturm" (2010) nicht aufnahm. Ohne diese Bücher ist der Komplex Peter Handke und Jugoslawien jedoch nur unvollständig erfasst.
Durchaus zutreffend warf Raimund Fellinger, Handkes Lektor, Brokoff "Insinuationen von Insinuationen" vor. So legte Brokoff unter anderem den Schluss nahe, dass Handke die (serbische) These vom "Rachemassaker" in Bezug auf Srebrenica dahingehend akzeptiert habe, in dem er den Ort der Verbrechen an der serbischen Bevölkerung durch bosniakische Truppen Jahre zuvor um Kravica herum aufsuchte und dort Einheimische befragte. Warum sei Handke nach Kravica gefahren, fragte Brokoff sinngemäß – und lud ein zum Frageergänzungsspiel: "…und nicht nach Srebrenica?" Dabei war Handke mehrmals in Srebrenica (und hat hierüber in zwei Reisebüchern Zeugnis gegeben) und vielfach (sowohl in seinen Büchern als auch in Interviews) die Abscheulichkeit des Völkermordes von Srebrenica betont. Dabei lehnte er definitiv und eindeutig Rache als "Milderungsgrund" rundweg ab (vgl. "Sommerlicher Nachtrag", S. 84).
Weiter nahm Brokoff aufgrund der Szene in den "Tablas von Daimiel", als Handke sich an einen Aufenthalt 1996 im Kosovo erinnert und dort die Augen der Passanten auf sich ausmachte, als Beleg für ein anti-albanisches Ressentiment des Dichters. Unerwähnt bleibt aber zum einen, dass Handke erzählt, wie er in einem Café nicht bedient wird, weil er eine Belgrader Zeitung "zusammenbuchstabierte" und somit als "Serbe" gilt (und dies – nebenbei – als seinen Fehler ausgibt). Und zum anderen wie der Dichter sein Gefühl selber als Paranoia quantifiziert (vgl. "Die Tablas von Daimiel", S. 45-48).
Saubere Textarbeit sieht deutlich anders aus. Aber diese scheinbar so nebensächlichen Details (wie man mir freimütig bekannte) spielten dann in der Diskussion (leider) keine Rolle, was vor allem dem "grauenhaft" von Raimund Fellinger geschuldet sein dürfte, denn von nun an gerierte sich Brokoff als verletzte Seele. In der Boxersprache nennt man das wohlGlaskinn.
Blaue Pilze und Spatzen
Wohltuend dann eine Stunde später das Gespräch zwischen Ulrich Greinerund Sibylle Lewitscharoff, angenehm unaufdringlich moderiert von Jan Bürger. Greiner trug einiges Anekdotische bei (beispielsweise die Zubereitung eines Pilzgerichts durch Handke mit einem blauen Pilz, wobei Greiner kurzfristig befürchtete, der Dichter könnte sich eines vielleicht unliebsamen Kritikers auf diese Art und Weise entledigen) und Lewitscharoff zeigte sich als kenntnisreiche Handke-Leserin mit "großzügiger Treue". Sie schwärmte für seine Spatzenbilder und lobte die "epiphanische Sprengkraft" der Handke-Bilder. Es sei als würde man "mit Stifter auf ein Autobahndreieck schauen". Mit den sogenannten Jugoslawien-Texten kann sie nichts anfangen und vertritt hier eine konträre Position. Greiner erklärte, dass er nach dem famosen "Immer noch Sturm" mehr Verständnis für Handkes Position entwickelt habe. Für einen schönen Schluss der Veranstaltung sorgte dann die Wortmeldung einer Zuhörerin, die mit wohlgeformten, emphatischen (aber nicht pathetischen) Worten von der "Versprachlichung" des Dichters schwärmte und damit für ein paar Sekunden das ganze Auditorium bannte.
Religion oder Spiritualität?
Am zweiten Tag musste der ausgefallene Beitrag von Stephan Sattler über Handke und den Petrarca-Preis noch nachgeholt werden. Es wurde ein heiterer und launiger Vortrag. Tim Lörkes Text über "Dauernde Augenblicke. Sinnstiftende Zeiterfahrungen bei Peter Handke" war außerordentlich gelungen, seine Äußerungen über Handkes "Dauer", dem dauernden (aber dann doch ephemeren) Augenblick und den Erfahrungen damit und dem dann entstehenden (oder voraussetzenden) "Bei-Sich-Sein" insbesondere anhand des Apothekers von Taxham aus dem in der Forschung erstaunlich wenig berücksichtigten Buch "In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus" (1997) waren sehr instruktiv und in sich schlüssig. Schön, dass es dies ohne Jargon gelang. "Das Dasein ist groß", so zitierte Lörke aus dem "Felsfenster"-Journal die fast programmatische Welteroberung und "zögerliche Mystik" des Protagonisten/Dichters, wobei er dann später nach einer Frage von Ulrich Greiner Handke vielleicht etwas zu apodiktisch als einen "sehr religiösen Autor" bezeichnete. Diesem Urteil widersprach dann später auch Tanja Kunz in ihrem Beitrag, wobei ich dieses Dementi fast als einziges aus ihrem Vortrag sicher verstanden habe (was freilich am Empfänger liegt/lag).
Studien am und mit dem lebenden Subjekt
Der Handke-Biograph Malte Herwig schilderte aufschlussreich und im wahrsten Sinne des Wortes hemdsärmelig die Problematik, am "lebenden Subjekt" eine Künstlerbiographie zu schreiben. Er erzählte von seinen Aufenthalten in Handkes Haus, den schmackhaften Pilzgerichten und den Spaziergängen des Schriftstellers, der den Biographen alleine in Notizbüchern und Manuskripten zurückließ (die Handke schließlich in "geschickter Erbteilung" als "Vorlass" vergeben habe). Herwig betonte die Authentizität Handkes, die zwar nicht vor einem Posieren haltmacht, aber niemals etwas darstellt, was nicht seinem Wesen entspricht. Dabei verglich er die Stilisierung des Dichters als Dichter am Beispiel der Darstellung der Hände von Thomas Mann und Lillian Birnbaums Bild von Handkes Händen beim Pilzeputzen im 2011 publizierten Band "Peter Handke – Portrait des Dichters in seiner Abwesenheit".
© Foto: Lillian Birnbaum 


Und man spürte Herwigs Achtung vor Handkes Konsequenz in Sachen Jugoslawien/Serbien-Engagement, dem Ertragen der (vorhersehbaren und von den Freunden prognostizierten) unerfreulichen Nebenwirkungen. Noch heute gibt es Buchhändler, die stolz sind, keine Bücher von Handke mehr zu verkaufen. Diese Kette der Schrebergartenressentiments lässt sich leicht erweitern: So annullierte man in Schloß Elmau die Einladung zu einer Lesung aus der Handke-Biographie stiekum (vermutlich leckte man noch die Wunden von Peter Sloterdijks "Menschenpark"-Vortrag 1999). Und die jüngste Posse um den Candide-Preis ist ja durchaus noch präsent.   
Frische Frageluft
Die jüngere Handke-Forschung vertraten Christian Luckscheiter undDominik Srienc. Luckscheiter ("Der Ursprung der Erzählung aus der Faszination für den Ort"), der etwas additiv, aber durchaus erhellend, Bombentrichter sehr häufig als Orte in Handkes Prosa (verbunden mit Kriegs- und Gewaltbildern) ausmachte, dabei jedoch nicht ausreichend berücksichtigte, wie Handkes "Trauma" des Bombenkrieges (vgl. Malte Herwigs Biographie) hier hineinspielt. Nach der souveränen und unprätentiösen Museumsführung in Sachen Handke durch Heike Gfrereisging es mit dem sehr gut belegten Beitrag von Dominik Srienc weiter, der von der Entstehungsgeschichte des "Versuchs über die Müdigkeit" (1989), dem ersten Manuskript, das Handke vollständig mit Bleistift geschrieben hatte, berichtete. Srienc präsentierte nicht nur die Malereien, die Handke in den vorbereiteten Texten anspricht und die ihn inspiriert hatten, sondern er spielte sogar ein adäquates Youtube-Video ein um den spanischen Osterlärm, den Handke in den Notizbüchern erwähnt, zu demonstrieren. Was für eine gute Idee!
Den Vortrag über das Handke-Forschungsprojekt an der österreichischen Nationalbibliothek habe ich (leider) genauso verpasst wie Raimund Fellingers Bericht über Handkes Briefwechsel mit Siegfried Unseld. Hier erzählte man mir dann von einem weiteren kleinen Eklat. Als Fellinger Malte Herwig indirekt eine Fehlinterpretation des (sogenannten) "Wutbriefes" von Handke an Unseld vorwarf (Handke wollte die Zusammenarbeit mit dem Verlag wegen einer Widmung von Marcel Reich-Ranicki an Unseld aufkündigen; vgl. "Meister der Dämmerung", S. 291ff) und damit indirekt dessen Arbeitsmethode insinuierend angriff, konterte dieser mit der Frage, warum er, Fellinger, als einziger (neben Jeanne Moreau) seine Biographie boykottiert habe. (Herwig hatte mehrfach – ergebnislos - um Einblick in die Korrespondenz gebeten.) Mit dieser frischen "Frageluft" ("Das Spiel vom Fragen") nicht unbedingt rechnend, fand Fellinger dann prinzipielle Gründe und äußerte seine Befürchtung, den Kontext dann nicht mehr "unter Kontrolle" zu haben.
Naja, immerhin gibt es einen Grund zur Freude: Im Herbst erscheinen dann die Briefe. Aus kontrolliertem Abbau, sozusagen. Lothar Struck
Dank an Lillian Birnbaum für die Genehmigung der Verwendung des Bildes aus ihrem Buch: "Peter Handke. Portrait des Dichters in seiner Abwesenheit", Müry Salzmann-Verlag. © Lillian Birnbaum