Sunday, April 17, 2016

BAUMSCATTEN EXCERPTS & COMMENTS

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Vor der Baumschattenwand nachts

PETER HANDKE Schwalben, schwoft für mich Aufzeichnungen aus den Jahren 2007 und 2008http://www.welt.de/print/die_welt/literatur/article152706618/Schwalben-schwoft-fuer-mich.html






Der Vaterlose fühlt sich immer im Blickpunkt, im Guten wie im Bösen

Was hast du bei den Verlorenen zu suchen? Was für eine Hoffart! Warum sie nicht ihrem Schicksal überlassen?

Es ist nicht leicht, zu reisen. Als Niemand anfangen und enden. Ja, es ist nicht leicht, zu reisen – aber man hat Zeit
"Der eigne Wille machet eine Form nach seiner instehenden Natur/Aber im gelassenen Willen wird eine Form nach dem Modell der Ewigkeit gemacht" (Jakob Böhme)
Mein innerer Globus: der Körper als ein Globus leuchtend wie kein nachgemachter, elektrifizierter
Lang ist's her, daß ich den Sonntagsmann im schwarzen Anzug und weißen Hemd mit flatternden Hosenbeinen habe gehen sehen am Rand der Landstraße in Oberösterreich. Lang ist's her, daß ich an der Hand des Großvaters gegangen bin, im Vormorgenlicht angesichts der münzgroßen Regentropfen im Staub des Feldwegs bei Stara Vas
Gehen, querfeldein: Die Weltgeräusche – ein jedes so verschieden, jetzt das Fasanenschreien, jetzt das Truthähnekollern – werden zu einem (1) Weltgeräusch
Eine neue Selbstmordart: sich selber lebendig begraben
Verb zur Zeitnot: "frißt" (an mir)
Am großen Busbahnhof in einem fort die ankommenden Busse, ein jeder aus einem anderen Land, der jetzt aus einem TAULAND (einer betauten Gegend); der jetzt aus einem Trockenland; der aus einem Regenland; der nächste aus einem Hagelland, einem Eisblumenland, einem Kriegsland, einem Nachtland (nach einer nachtlangen Reise). – Studier alle die verschieden gezeichneten, gemusterten Fensterscheiben der daherkreisenden Busse: an jedem eine jede Scheibe anders beatmet von den Passagieren: Panikatem; Schau-Atem; Kinderatem; Altenatem; Wach-Atem; Müdigkeitsatem; Schlafatem; Spielatem. Und die Abdrücke der Nasen, Hände, Stirnen, Wangen auf den Busfenstern als die Landkarten (Belgrad, April 2007)
Schönes Haus!? Ja. Aber es fehlt das in ihm geschriebene Buch
"Leises Grün": Kann man so sagen? Ja
Was hieß Lesen? Zum Beispiel: "Sonnengeruch stieg aus dem Buch"
Mancher Aberglaube ist keiner – erzähl!
Alles ist doch gesagt? Nichts ist gesagt. Nichts ist zu sagen. Und wenn auch alles gesagt wäre – umso besser: Sag's auf deine Weise. Deine Weise – so du eine hast – wird gebraucht
Buchhändlerschüler? Aber du weißt ja nicht einmal, wie man ein Buch hält. Schau, wie du es hältst!
Es gibt auch episch fruchtbare Vorurteile? Ja, wenn sie sich auflösen
Je mehr Kommunikation, desto herzloser; ein wenig mehr Namenlosigkeit würde der Welt gut tun
Es gibt die Unschuld. Sie wird die Welt retten. Träume mich, Epos! Heute muß ich weit gehen: Fühle ich mich nicht im Aufbruch, im Aufbruchstraum von einer möglichen Menschheit, so hat das poetische, das entwerfende Schreiben keinen Sinn
Was ist meine Art Freude? Die Freude auf die Fortsetzung (Goethes "Folge")
Schreiben heißt auch: den Traum, den Großen, zügeln
Die verschiedenen Geher: der in seiner Art zu gehen bedrohliche, gewalttätige – dagegen der friedliche, der durch seine Art Gehen Friedenstiftende
Es tut gut, unter Seinesgleichen zu sein. Aber nicht zu lange
Die Lust, am Böse-, gar Schlechtsein: wie das Bedürfnis, aus Leibeskräften falsch zu singen (Bedürfnis? Lust?)
Es geht nichts über ein Menschengesicht, im ersten Morgenlicht
So schöne Gärten, und so böse Menschen
Bin ich denn der Diener meiner Kinder? Ja
Schreiben: Umträumen
Eine Stelle in einem Buch, die man gerade noch gelesen hat, wird beim Zurückblättern nicht mehr gefunden, so lange man auch blättert

2008

Der Nachbildmaler: ein Nachbild des Schnees; das Nachbild des Schneiens
Im Flugzeug über Europa: haben denn die Flüsse nichts anderes zu tun als zu mäandern? – Nein, sie haben nichts anderes zu tun
Verb für Mann und Frau: Sie "wecken einander"
Es stimmt: Gegen die Dummheit ist kein Kraut gewachsen, nicht ein einziges (die Filmchen "Versteckte Kamera" im Flugzeug), und es gibt vor ihr kein Entrinnen
Der tagtägliche Lucifer rising in mir, und sein täglicher kleiner Höllensturz. Aber ohne angemaßten Lichtträger kein Tag?
Was ich gesagt, ausgesprochen, ausgeplappert habe von meinem Innersten: Es ist nichts mehr zum Aufschreiben, ich kann es nicht mehr niederschreiben
Verb für den Schöpfer (Schöpferischen): "gibt ein Beispiel"
Verb zu den Bösen: "lassen nicht(s) sein"
Es hat alles sein Gutes – außer man tut es
Stufen: Bewußtlos essen / bewußt essen / sich bewußtessen
"Sitzt du an einem Buch?" – "Nein, ich gehe"
Er hat nichts zu verbergen, er ist kein Künstler
In den Vororten fangen die Rechtschreibfehler an
Ein Zitronenfaltertag ohne leibhaften Zitronenfalter. Aber Zitronenfalterluft, Zitronenfaltersonne, Zitronenfalterwind. Freilich: die Temperatur gegen Mittag: "Noch ein (1) Grad unter der Zitronenfalterskala"
Verb für das Wirkliche, das Reale: Es "wuchtet" (auch bloß in Form eines Tagpfauenauges)
"Bouvard und Pécuchet", das wißbegierige vereinsamte ältliche Laien-Männer-Paar: was für ein langweiliger Mythos, aber immerhin ein Mythos – der letzte bisher? (und der "vorletzte" der der "Wahlverwandtschaften"?)
Meine Schubert-Stunde: zum Beispiel die Messe des Ostersonntags in der Paulanerkirche, Wien 4, vor Wochen, und danach: Stunde der beschwingten, zu den Augenpaaren der anderen, Unbekannten hin schwingenden Gereinigtheit – füge solche Stunden aneinander. Schubert-Stunde als Reinheit, wie? Durch Ent-Wütigung und Anschauung, zum Beispiel der einander kreuzenden und sich bekreuzigenden, eher alten Meßbesucher auf dem Weg von und zur Kommunion / Eucharistie
Ich habe alle erlebten, ergangenen Erdgegenden in mir. Ich muß sie nur wecken, durch Innehalten. Vorsätzlichkeit gilt nicht
Schreiber, sei rückhaltlos. Keine Technik, es sei denn, die des (Ver)meidens
Nichts Schöneres als das gleichmäßige Bergauf in der Sonne; das Piano Schuberts und das Flappen des jungen Laubs über den Waldboden
Steigerungsform zu "Schweig!": "Schweig still!"
Eine weltumspannende Sprache: die der Kinderhüpfschritte (China – Alaska – Feuerland)
Elegante Fürsorglichkeit: Ideal
Schwermut: Ach, diese so frische Blüte da, sie wird verblühen. Ach, dieser so klare Bergkristall, er wird erblinden. "Jetzt helfen nur noch die Worte Gottes". Schwermut: Gegenwartsverlust, Gegenüberverlust, "ohn' Gegenüber ist mein Name"
Grundgütig (christlich): allbarmherzig (islamisch) gerecht (all-eins)
"Mein eigentliches Werk besteht ... nicht aus Vers oder Prosa, sondern in der Überwindung meiner Dummheit" (Doderer, spät, et ego?)
Ich, das Ich, "mein" Ich, ist nichtswürdig, wenn ich, es nicht Durchlaß werde (wird)
Aus dem Haus gehen mit dem Bedürfnis, zu grüßen; gleichwen
Das Theater hat keinen Sinn mehr. – Aber es muß einen haben
Schwalben, schwoft für mich
Das Geschrei der Kinder: Es gibt schönere Musik. Aber es ist Musik
Beim Hören von "Owner Of A Lonely Heart": Was täten wir ohne Lieder? (Auch da ist einmal ein "wir" am Platz)
Mehr an Gebet ist nicht in mir als ein zeitweiliges "Gott, wie schön!"?
Du willst deine Trauer fühlen? Beweg dich! (Gerhard Meier ist gestern gestorben)
Das Gedächtnis, das Gedenken, das Eingedenk-Sein liegt bewahrt (konzentriert) im Körper in Zwischenräumen aller Art, in Knochen, Sehnen, Adern, Hautzellen, überhaupt Zellen, Gelenken vor allem, Knie, Arme: diese dehnen! – und eine Gedächtniszelle nach der andern kehrt zurück und macht sich "ganzkörperweise" bemerkbar
Ich freue mich: auf den Tau von Alaska
Noch einmal "Schwermut": Wo eine Form ist, sehe ich eine Störung

2015

"Herkunft des Fleisches: Geboren in Deutschland. Aufgezogen: In Deutschland. Geschlachtet: In Deutschland" (Bistro, schwarze Tafel)


http://www.sueddeutsche.de/kultur/notizen-zur-gegenwart-schnabelkrach-1.2953063

Notizen zur Gegenwart
Schnabelkrach



Was macht das Rotkehlchen? "Es flaumt." Peter Handkes tagebuchartige Aufzeichnungen aus den Jahre 2007 bis 2015 bieten zarte Zeilen, harte Kanzelworte und dann und wann auch ein "leises Grün".

Von Helmut Böttiger
"Schreiben: sich von sich überraschen lassen." Dieser Satz steht losgelöst von den anderen Sätzen da, durch Leerzeilen getrennt. Es ist ein Anspruch, dem Peter Handke mit jedem dieser Absätze gerecht zu werden versucht: Er notiert, was ihm durch den Kopf geht, und wenn er Lust hat, lässt er es einfach so stehen. Es ist eine späte Prosa, mit Abstraktionen und Zuspitzungen, Gedankensplittern und verknappten Dialogen. Peter Handke, mittlerweile 73 Jahre alt, hat immer schon tagebuchartige Aufzeichnungen veröffentlicht, und er hat das gezielt bei Verlagen getan, die in Salzburg ansässig sind, näher an seinem Herkommen als Suhrkamp, sein Haupthaus.

Da wurde immer nah am Ich operiert, da schaute sich der Autor selbst im Spiegel an, und es gab auch erzählerische Passagen über das Schwimmen in Flüssen oder Wanderungen im österreich-slawischen Übergangsraum, sehr suggestiv und die Atmosphäre auskostend. Im Vergleich zu den früheren Tagebüchern Handkes fällt nun die radikale Reduktion auf. Manchmal verdichten sich die einzelnen Zeilen zu Aphorismen, manchmal sind es donnernde Kanzelworte. Und manchmal schlichte Aussagesätze: "Kafka ist nicht gestorben."

In der spröden, sich oft entziehenden, mäandrierenden Schreibweise dieser "Zeichen und Anflüge von der Peripherie", so der Untertitel, könnte man Anklänge an Goethes "Wanderjahre" erkennen: vorletzte, verstreute Gedanken, die keine verbindenden Füllsätze mehr nötig haben. Und Goethe kommt auch sehr häufig vor, gerade der spröde, sentenzenhafte der letzten Jahre, den sich Handke programmatisch vorzunehmen scheint und von dem er immer wieder Funde zitiert. Aber spätestens an solchen Stellen sollte man nie zu sicher sein. Handke schlägt oft Haken: "Der Goethe der 'Wanderjahre', nach der Luftigkeit der 'Theatralischen Sendung' und der 'Lehrjahre', hat etwas von einem 'Gruftie'".

Das ist eine sehr eigene Art, mit Selbstironie und Augenzwinkern umzugehen. Die "Luftigkeit", der sich Handke schreibend nähert und die immer ein Ideal für ihn bleibt, ist durch eine große Ernsthaftigkeit hindurchgegangen. "Wie hoch ernst wir sein müssen, um nach alter Weise heiter zu sein": Diesen Satz des alten Meisters ruft er sich wiederholt in Erinnerung.

Was macht das Rotkehlchen? Handke schreibt: "Es flaumt."
Im Zentrum dieses Breviers stehen Überlegungen zur Tätigkeit des Schreibens. Ein ständig wiederkehrendes Motiv ist die Suche nach passenden Verben; denn dieser Autor lebt in Verben und nicht in Hauptwörtern. Es geht ihm darum, einen vermeintlich beiläufigen Vorgang so genau zu fassen, dass man ihn wie zum ersten Mal sieht, um eine sinnliche Präzision. Als Verb für das "Wirkliche" findet Handke einmal "es wuchtet", als Verb für das Rotkehlchen "es flaumt". Für die "Freude" fallen ihm mehrere, zum Teil sehr gesuchte Zeitwörter ein, zum Beispiel: sie "skulpturiert" - "die vorher unscheinbarsten Formen treten in den Raum", werden körperlich.




Es sind genaue Erkundungen der deutschen Sprache und ihres Wortschatzes, in den Verben bilden sich Bewegung und Dynamik ab, und es gilt zu differenzieren. Wenn Handke den Verben zur Freude die Verben zum "Glück" entgegensetzt, entstehen überraschende kleine Erzählungen und Szenen, ohne dass sie näher ausgeführt werden müssen: Das Glück "macht zittrig", "trübt" oder "entleibt".

Die Konzentration dieses Autors auf kleinste Dinge und Ereignisse, auf die "Spatzenbadekuhlen" in den Pfützen auf dem Bahnhofsvorplatz, auf das "Quittenblütenweiß", das er noch als Steigerung von "blütenweiß" erfährt oder auf den ersten Zitronenfalter im Jahr, dessen Erscheinen einem Festtag gleichkommt - man hat das oft als ein "Raunen" missverstanden, als ein überhöhtes Poetisieren. Wenn es sich da aber um ein Raunen handelt, ist es eher eines im Sinne Gottfried Benns, der von sich gerne sagte, er gehe in die Kneipe und "raune ein paar Verse" vor sich hin. Handke weigert sich, zu den "Gras(be)wisperern" gezählt zu werden, er lehnt es ab, "weltflüchtig zu werden". Dem Rauschen der Bäume zu lauschen bedeutet für ihn eine "Aktivierung". Und so ist auch der "Schnabelkrach" der Elstern, der entsteht, wenn sie die Dachrinne säubern, für ihn eins mit dem Schreiben.

Diesem Vorgang wird minutiös nachgehorcht. Einmal heißt es: ",Leises Grün': Kann man so sagen? Ja." Das Sich-selbst-ins-Wort-Fallen, das Nachfragen ist charakteristisch, es scheint sich in den letzten Büchern Handkes fast verselbständigt zu haben. Es gilt dem Bestreben, der Sprache ungewohnte Nuancen abzugewinnen, überraschbar zu bleiben. Die Wahrnehmung probiert sich ständig neu aus, und am Schluss steht oft eine Gegenfrage, ein Zweifel, ein Neuansatz.

Diese Art des Schreibens ist beileibe kein harmonischer Vorgang. Handke spricht sich zwar zu: "Immer wieder: Ich bin nicht zu politisieren", aber er ist in jeder Hinsicht ein "Reizbarer". Freude und Wut hängen bei ihm eng zusammen. Besonders prekär wird es, wenn die Öffentlichkeit ins Spiel kommt. "Hüte dich vor den geschulten Stimmen", heißt es zunächst eher abwägend, und gegen die allgegenwärtigen Routiniers steht das Diktum: "Kunst ist das Gegenteil von gut gemacht." Der Ton kann aber auch verschärft werden: "Die Öffentlichkeit ist dumm, und Andy Warhol ist ihr Prophet." Oder, durchaus nach innen gerichtet: "Publikum verdirbt." Joyce, Céline oder Arno Schmidt werden mit ihren "Punktlos-" und "Stummelsätzen" als Widerparts ausgemacht, die "aktuellen Dichterhorden und ihre Lyrikfeste" als "falsche Sinnstifter". Zu Handkes Suche nach "Zwischenräumen" und "Schwellenzuständen", nach dem freudigen Moment gehört als Pendant zwangsläufig auch eine aggressive Seite.

Dieser Autor war schon immer auch ein Polemiker, ein Wetterer gegen den Konsens: "Das lieblose Bürgertum ('vertreten' z. B. durch Th. Mann) darf nicht siegen." Auch in seinen hymnischsten Naturversenkungen, in den pathetischen Anleihen und Gebets-Anwandlungen steckt etwas Widerborstiges. Doch dieses Widerborstige hat zugleich etwas von Spiel, von Theater. Handke versucht, seine "Wanderjahre" auf jugendliche Weise zu begehen, wobei dieses Wandern seit jeher auch mit dem Bleistift auf dem Papier geschah. Seine Notate haben etwas Selbstreferenzielles, und bisweilen Manieristisches. Sie messen ihren Kosmos immer wieder neu aus und kümmern sich nicht um aktuelle Zuweisungen an die Literatur.

Der Schreiber Peter Handke schert sich nicht um Peinlichkeiten und Missverständnisse, typisch sind Nachsätze wie "Hab ich das nicht schon so ähnlich notiert? Und wenn - ". Er setzt sich aus, fragt unbeirrt weiter, und er genießt seine auf harte und auch zarte Weise erkämpfte Narrenfreiheit: "Ich wunderte mich über die Existenz, und ein Rauschen fuhr durch die Bäume."
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