Tuesday, November 8, 2016

"Publikumsbeschimpung". Ein betrachtet aus dem 21. Jahrhundert

Peter Handkes "Publikumsbeschimpung". Ein Skandalwerk, betrachtet aus dem 21. Jahrhundert

Seminararbeit, 2015, 12 Seiten
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2
Inhalt
1. Einleitung ... 3
2. Allgemeines zum Werk ... 4
2.1 Entstehungskontext ... 4
2.2 Ablauf & Inhalt ... 5
3. Brechts episches Theater ... 5
4. Handkes frühe Poetik ... 7
5. Auswirkungen auf die Theaterwelt ... 9
6. Fazit/Abschluss ... 11
7. Literaturangaben ... 12
7.1 Primärliteratur ... 12
7.2. Sekundärliteratur ... 12
7.3. Internetquellen ... 12

3
1. Einleitung
Peter Handke gilt als einer der wichtigsten und einflussreichsten, aber auch umstrittensten
Autoren der Gegenwartsliteratur. Immer wieder sorgte er für Kontroversen. Das
prominenteste Beispiel dafür war sicherlich sein Engagement im Jugoslawien-Krieg und
seine Prosa aus dieser Zeit, wie das Essay "Abschied des Träumers vom Neunten Land"
von 1991. Seinen ersten großen Erfolg erlangte er allerdings bereits 1966 mit der
Uraufführung seines Bühnenstücks
Publikumsbeschimpfungen
. Dabei geht es nicht nur um
das "sich auflehnen" gegen die Wiederholung von bereits Dagewesenem, er konstituiert
damit auch seine eigene, ganz neue Poetik. Handke versucht, die Theaterwelt in anderes
Licht zu setzen und alte Muster zu durchbrechen. Aus damaliger Sicht war dieser Ansatz
revolutionär und im Zusammenspiel mit seinem wirkungsvollen Auftritt in Princeton bei der
Tagung der Gruppe 47 im gleichen Jahr, bei dem er die "Beschreibungsimpotenz" der
alteingesessenen Schriftsteller kritisiert, begründet dieses erste Bühnenstück seinen
kometenhaften Aufstieg. Und entgegen aller Erwartungen hat sich
Publikumsbeschimpfung
innerhalb kürzester Zeit zu einer Art Publikumshit und Kassenschlager entwickelt. Denn
obwohl es sich um eine Art Beschimpfung handelte, strömten die Zuschauer ins Theater.
Das spricht dafür, dass Handke damit wirklich den Nerv der Zeit traf. In dieser Zeit, kurz vor
den Protesten der 68er-Bewegung, waren vor allem junge Zuschauer begeistert von dieser
Art, die alten Muster zu durchbrechen, sich von den Generationen vor Ihnen zu
unterscheiden und neue Wege zu gehen.
Im Folgenden soll dieses Werk nun erneut betrachtet werden. Da es sich damals auch
gegen das epische Theater Bertolt Brechts wendete, sollen auch die Eckpfeiler von Brechts
Auffassung vom Theater noch einmal untersucht werden, um Handkes Kritik und seine
Lösungsansätze in einen Kontext zu setzen.
Das abschließende Ziel dieser Arbeit soll es sein, herauszufinden, ob Handkes Ansätze und
Kritik fast 50 Jahre nach der Uraufführung von
Publikumsbeschimpfung
noch gleich relevant
und aktuell sind.

4
2. Allgemeines zum Werk
2.1 Entstehungskontext
Zum Entstehungszeitpunkt des Sprechstücks
Publikumsbeschimpfung
war Peter Handke
zum Studium der Rechtswissenschaften in Graz inskribiert und studierte auch aktiv. In
einem Fernseh-Interview mit Friedrich Luft 1969 sagt er, er habe das Jus-Studium in Graz
vor allem deshalb angefangen, weil es in Graz billiger war und er gehört hatte, neben dem
Studium bliebe genug Zeit, zu schreiben
1
. Seinen Roman
Die Hornissen
hatte er zu diesem
Zeitpunkt bereits beendet. Durch sein Verhältnis mit der Schauspielerin Libgart Schwarz
kam Handke um 1965 herum verstärkt in den Wirkungskreis des Theaters. Außerdem war er
im Forum Stadtpark aktiv. Handke sagt zu seinem Einstieg in die Theaterwelt später in einen
Interview mit dem FOCUS-Magazin:
"
Zum Theater bin ich eigentlich ganz naiv gekommen. Siegfried Unseld, der meinen ersten
Roman ,,Die Hornissen" angenommen hatte, hat gesagt: Davon können Sie nicht leben, mit
Stücken können Sie Geld verdienen.
"
2
Je mehr er sich jedoch mit dem Theater und dem Schreiben von Stücken beschäftigte, desto
resignierter wurde er. Er war genervt davon, wie gespielt wurde und davon, wie im Theater
Natürlichkeit vorgetäuscht wurde.
3
Zur gleichen Zeit schrieb Handke neben dem Studium auch Buchbesprechungen für die
Literatursendung "Bücherecke" des Österreichischen Rundfunks im Landesstudio
Steiermark. Unter anderem wurden auch zeitgenössische Dramentexte besprochen, man
kann also hier einen weiteren Anstoß für Handkes Einstieg in die Theaterwelt sehen.
Handke schloss die Schaffensphase des Stückes im Herbst 1965 ab und übergab es im
November an seinen Verleger Siegfried Unseld. Es fanden sich sofort Fans des Stückes im
Verlag und es wurden ihm gute Aufführungschancen eingeräumt. Dennoch dauerte es
einige Zeit, bis sich ein Theater fand, dass die Uraufführung der
Publikumsbeschimpfung
wagte. Viele Theater wollten wohl das Wagnis nicht eingehen, ihr Stammpublikum zu
verärgern. Uraufgeführt wurde
Publikumsbeschimpfung
schlussendlich am 8.6.1966 im
1
Vgl. Friedrich Luft: Das Profil: Peter Handke - Gespräch mit Friedrich Luft. München: Bayrischer
Rundfunk Alpha 1969 URL:
https://www.youtube.com/watch?v=fMPW00m_gZc
(26.8.2015)
2
Andres Mühry, Stefan Sattler: In den Rätseln bleiben!. In: FOCUS Magazin/7: 2007 URL:
http://www.focus.de/kultur/buecher/kultur-in-den-raetseln-bleiben_aid_227012.html
(26.8.2015)
3
Vgl. ebda

5
Theater am Turm Frankfurt im Rahmen des Theaterfestivals Experimenta 1. Die Regie
führte Claus Peymann.
4
2.2 Ablauf & Inhalt
"
Sie werden kein Schauspiel sehen. Ihre Schaulust wird nicht befriedigt werden. Sie werden
kein Spiel sehen. Hier wird nicht gespielt werden. Sie werden ein Schauspiel ohne Bilder
sehen.
"
5
Diese Zeilen finden sich im Eingangstext des Stückes. Zu diesem Zeitpunkt spätestens
muss einem aufmerksamen Publikum auffallen, dass es kein Theaterstück in
konventionellen Sinn zu sehen bekommen wird. Vier Schauspieler stehen auf der Bühne, sie
tragen sehr legere Kleidung, es gibt keine Requisiten, keine Handlung. Das Licht im
Zuschauerraum brennt, die Schauspieler blicken die Gäste direkt an. Die Schauspieler
richten während der gesamten Aufführung das Wort an das Publikum. Der Text kann als
eine Art choreographisch einstudierter Sprechgesang bezeichnet werden. Immer wieder
sprechen die 4 Schauspieler im Chor, durcheinander, gegeneinander oder Sie wechseln
sich ab, nach jeden Satz, nach jedem Wort. Zwischendurch begeben die Schauspieler sich
in den Zuschauerraum, verteilen sich und sprechen das Publikum damit noch direkter und
näher an.
Die tatsächliche "Beschimpfung" beginnt aber erst in den letzten 10 Minuten des Stückes.
Und dann endet das Stück sehr abrupt, mit den Worten "
Sie waren hier willkommen. Wir
danken Ihnen. Gute Nacht.
"
6
3. Brechts episches Theater
Handkes frühe Theorie des Theaters, zu finden im wissenschaftlichen Aufsatz
Ich bin ein
Bewohner des Elfenbeinturmes
von 1967, setzt sich mit dem damaligen Theater
4
Vgl. Katharina Pektor: Publikumsbeschimpfung - Enstehungskontext. In: Handkeonline.onb.ac.at
URL:
http://handkeonline.onb.ac.at/node/296
(27.8.15)
5
Peter Handke: Publikumsbeschimpfungen und andere Sprechstücke. Frankfurt am Main: Suhrkamp
2012, S.15
6
ebda, S.48

6
auseinander. Er bezieht vorallem Bertolt Brechts episches Theater in seine Ausführungen
mit ein.
"
Die Geschichten auf der Bühne gingen mich nichts an, sie waren, statt einfach zu sein,
ständig nur Vereinfachungen
."
7
Als ein Relikt aus vergangenen Zeiten sei Ihm das Theater vorgekommen und er erklärt
auch, dass er deshalb früher nie gedacht habe, überhaupt jemals Bühnenstücke zu
schreiben.
8
Brechts episches Theater war seinerzeit eine große Neuerung. Es verbindet zwei
Literaturgattungen und stellte einen Gegensatz zum aristothelischen Theater der fünf Akte
dar. Brechts Intention war es, die Zuschauer des Theaters zum Nachdenken anzuregen. Er
zeigt dem Theaterbesucher unverständliche Handlungsmuster und Widersprüche. Es gibt
keine Einfühlung in die Figur, nur mit Denkarbeit soll der Zuschauer zu einer eigenen
Erkenntnis und Meinung kommen.
9
Ein wichtiger Bestandteil des Brechtschen Theaters ist der Verfremdungseffekt. Brecht war
der Meinung, durch die Einbindung epischer Elemente in ein dramatisches Stück "lehrhafte
Tendenzen" hervorrufen zu können. Dabei soll das Theater trotzdem Theater bleiben und
weiterhin ein Bedürfnis nach Vergnügen trotzallem befriedigen. Stoffe und Vorgänge
müssten einem Entfremdungsprozess ausgesetzt werden und eine Einfühlung in die
dramatischen Personen sollte vermieden werden. Viktor Sklovskijs Begriff von der
"Verfremdung" kommt ihm gelegen. Er schreibt, Verfremdung sei eine Darstellung, durch die
"das Geläufige auffällig, das Gewohnte erstaunlich" werde.
10
Die Verfremdung ist durch verschiedene Maßnahmen in der Textvorlage und in der
Theaterpraxis zu erzielen. Der Schauspieler soll sich dabei nicht mit seiner Rolle
identifizieren und dadurch auch die Identifizierung des Zuschauers mit der Figur verhindern,
er bewahrt Distanz zu seinem Text. Der Schauspieler selbst soll im epischen Theater
Stellung zum gezeigten Vorgang nehmen und damit das Publikum zur kritischen Reflexion
animieren. Illusionistische Wirkungen sollen vermieden werden und die "vierte Wand" wird
niedergerissen, um den "Schein von Unmittelbarkeit und realer Präsenz des Geschehens"
7
Peter Handke: Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms. Aufsätze. Frankfurt am Main: Suhrkamp
1972, S.27
8
Vgl. ebda, S.27
9
Vgl. Jan Hajer: Episches Theater. URL:
http://hajer.com/unterricht/deutsch/gattungen/drama/episches_theater.htm
(29.8.15)
10
Vgl. Klaus-Detlef Müller: Bertolt Brecht. Epoche - Werk - Wirkung. München: C. H. Beck 2009, S.
121f.

7
zu durchbrechen. Der Zuschauer soll nicht passiv sein und das Schauspiel nachempfinden,
sondern aktiv das Gezeigte kritisch einschätzen.
11
Der Gebrauch von Kulissen im epischen Theater ist sehr sparsam, manchmal werden
Masken eingesetzt oder eine Inhaltsangabe wird vor der Szene von einem der Schauspieler
vorgelesen. Manchmal richten sich die Schauspieler direkt an das Publikum. Dennoch bleibt
der Schein des Theaters gewahrt.
In der Textvorlage gibt es, um den Verfremdungseffekt zu erzielen, oft keinen linearen
Handlungsverlauf. Die Szenen stehen für sich und nicht "nacheinander", oft sind sie sogar
untereinander austauschbar. Dabei wird die Handlung in örtlicher und/oder zeitlicher Distanz
dargestellt. Des Weiteren bedient sich der Autor meist einer Art Satire gegen die Obrigkeit
und gibt dieser der Lächerlichkeit Preis.
Das epische Theaterstück endet auch häufig mit einem offenen Schluss, um einmal mehr
dem Zuschauer Raum für eigene Überlegung zu geben. Das letztendliche Ziel des epischen
Theaters ist es, Konflikte um z.B. Kriege, Revolution, soziale Ungerechtigkeit und Ökonomie
für den Zuschauer durchschaubar zu machen. Der Zuschauer soll den Willen entwickeln, die
Gesellschaft zum Besseren zu verändern.
12
4. Handkes frühe Poetik
Einer der interessantesten Aspekte der frühen Handke-Werke ist vielleicht, dass er mit einer
Reihe von Aufsätzen (
Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms
, erschienen 1968) sein
Vorgehen und seine Methodik selbst erklärt.
Den ersten Angriffspunkt für seine Kritik an der zeitgenössischen Literatur findet Handke im
Realismus. In seinen Essays spricht er dem Realismus vor allem den allgemein anerkannten
Wahrheitsanspruch ab. Während der Realismus zunehmend die Wahrheit für sich
beansprucht und vergisst, dass er nur eine Methode ist, sieht Handke realistisches
Schreiben als eine von vielen literarischen Möglichkeiten, Natürlichkeit und Wirklichkeit
darzustellen.
Handkes frühe Werke richten sich also gegen die falsche Natur des Schreibens.
13
11
Vgl. Klaus-Detlef Müller: Bertolt Brecht. Epoche - Werk - Wirkung. München: C. H. Beck 2009,
S.122
12
Vgl. Jan Hajer: Episches Theater. URL:
http://hajer.com/unterricht/deutsch/gattungen/drama/episches_theater.htm
(31.8.15)
13
Vgl. Kastberger, Klaus: Lesen und Schreiben. Peter Handkes Theater als Text. In: Ders. / Pektor,
Katharina (Hg.): Die Arbeit des Zuschauers. Peter Handke und das Theater. Salzburg/Wien: Jung und
Jung 2012, S.35

8
Etwas weniger explizit zieht sich diese Idee Handkes durch sein gesamtes Werk. Er schreibt
gegen etwas Falsches, Anderes; gegen Methoden, die mit unreflektierten, immer gleichen
Mustern arbeiten. Er richtet sich beständig gegen die Wahrheitsansprüche dieser Methoden,
sei es in der Politik, der Geschichte oder auch in den Medien.
Handke erlegt sich daher eine Art Programm auf, das Programm der kontinuierlichen
Neuerung. Er will jede Methode des Schreibens nur ein einziges Mal verwenden. Seine
Gründe legt Handke im Essay
Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms
ziemlich deutlich
dar:
"
Wenn die Methode so sehr abgebraucht - d.h. natürlich geworden ist, daß mit ihr das
Trivialste, das allseits Bekannte - nur neu `formuliert' - wieder gesagt werden kann, dann ist
sie zur Manier geworden
[...]"
14
Er ist überzeugt, dass eine Methode nach der ersten Verwendung bereits verbraucht ist und
nicht mehr in der Lage, Neues zu schaffen. Handke umschifft damit die
"Beschreibungsimpotenz", die er all denen vorwirft, die sich über Jahre hinweg in der
Methode des realistischen Schreibens verfangen haben. Auch wehrt sich Handke vehement
gegen die Fiktion und will sie aus seinen eigenen Stücken fern halten. Es soll mehr um die
Mitteilung von sprachlichen und nicht sprachlichen Erfahrungen gehen, dazu werde eine
Geschichte nicht mehr benötigt.
15
Es ist daher nur konsequent, dass
Publikumsbeschimpfung
so völlig frei von Handlung ist.
Nicht ohne Grund wird es oft eher als Sprechstück, denn als Theaterstück bezeichnet. Die
"falsche Wirklichkeit" ist es, die seine Kritik im Theaterkontext besonders auf sich zog. Der
Bühnenraum und seine Bedeutung blieben im zeitgenössischen Theater unreflektiert. Auch
Brechts Versuch der Desillusionierung scheint Handke nicht geeignet, denn auch hier sind
erst Illusionen, also Fiktion, nötig, um zur Desillusionierung zu kommen. Brecht täusche
Wirklichkeit vor, wo Fiktion sei.
16
In
Publikumsbeschimpfung
testet Handke daher seine erste Methode: die komplette
Verneinung aller bisherigen Methoden. Das Stück hat keine Handlung, keine Figuren, keinen
Bedeutungsraum "Bühne", keine Kulissen oder Kostüme, selbst die Schauspieler treten nicht
wirklich als Schauspieler auf. Das Geschehen findet nicht nur auf der Bühne statt, vielmehr
ist es eine Art Kommunikation mit dem Publikum. Der Bühnenraum wird gar nicht erst
14
Peter Handke: Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms. Aufsätze. Frankfurt am Main: Suhrkamp
1972, S. 21
15
Vgl. ebda, S. 24
16
Vgl. ebda, S. 27

9
"hergestellt", von Anfang an verschwimmen die Grenzen und werden später, mit dem
Eintreten der Schauspieler in den Zuschauerraum, gänzlich aufgehoben.
Besonders interessant und auch amüsant zu lesen sind im Text von
"Publikumsbeschimpfung" die Regeln für die Schauspieler, die dem Stück voran gestellt
sind. "
In dem ersten Beatles-Film Ringo Starrs Lächeln ansehen, in dem Augenblick, da er,
nachdem er von den andern gehänselt worden ist, sich an das Schlagzeug setzt und zu
trommeln beginnt.
"
17
Das ist eine der 17 Anweisungen, die immer skurriler zu werden
scheinen. Einmal mehr beweist Peter Handke damit unkonventionellen Einfallsreichtum und
den Willen, alte Muster zu durchbrechen. Er setzt mit diesem Regeln ganz andere
Prioritäten, um das Gelingen der Aufführung sicherzustellen.
Nun könnte man argumentieren, dass es durchaus Parallelen zwischen der Methode
Handkes in
Publikumsbeschimpfung
und Brechts epischem Theater gibt. Auch Brecht
möchte die Zuschauer zur Reflexion animieren, auch im epischen Theater wird gelegentlich
das Wort an die Zuschauer gerichtet. Der entscheidende Unterschied findet sich aber, wie
oben bereits erwähnt, in der Fiktion. Für Brecht bleibt das Theater immer fest verbunden mit
einer erfundenen Geschichte. Diese soll das Publikum, angestoßen durch die Wirkung der
Verfremdung, zum Überlegen bewegen, ihm Stoff zum Nachdenken geben und Reflexion
über das eigene Handeln und Handeln Anderer initiieren. Handke jedoch ist der Meinung, es
sei das Beste, die Literatur zur Gänze frei von unnötiger Fiktion zu halten.
18
Mit diesem
Schritt kapselt er sich von allem vorher Bekannten ab und begründet, zumindest für sich
selbst, eine neue Art Theater.
5. Auswirkungen auf die Theaterwelt
Provokation und Neuerung, die erkennbaren Hauptmotive der frühen Stücke Handkes
sprechen besonders die jungen Theaterbesucher an. Die grundlegende Kritik am
Theaterbetrieb und seinen Machern, an sprachlichen Mustern, die die Wirklichkeit verzerren,
passt gut in den aufkeimenden Unmut der nachkommenden Generation. 2 Jahre später wird
dieser Unwille, den vorangegangenen Generationen in alten Bahnen zu folgen, seinen
17
Peter Handke: Publikumsbeschimpfung und andere Sprechstücke. Frankfurt am Main: Suhrkamp
2012, S. 9
18
Vgl. Peter Handke: Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms. Aufsätze. Frankfurt am Main:
Suhrkamp 1972, S. 24

10
Ausdruck in der 68er-Bewegung finden. Handke selbst war dieses politische Engagement
jedoch bereits zu direkt. Es ging ihm eher um eine Veränderung der ästethischen
Wahrnehmung, die dann wiederum eine politische Veränderung des Menschen bewirken
könne.
19
Unmittelbar nach seinem Aufstieg zum "Pop-Star der Literatur" war sein Einfluss auf die
Öffentlichkeit sehr groß. Er war faszinierend und undurchsichtig, eine politische Motivation
nur schwer erkennbar, kurz: Peter Handke wurde zum Phänomen. Seminare und
Arbeitskreise schossen wie Pilze aus dem Boden; es gab Fans, die ihm wie Groupies zu
seinen Lesungen und Auftritten hinterher reisten und es gab Leute, dessen neues Hobby es
wohl war, gegen Handke und seine Überzeugungen zu sein.
20
In diesen ersten Jahren nach
Publikumsbeschimpfung
hatte Handke also großen Erfolg,
nicht zuletzt auch weil er in den Jahren von 1966 bis 1971 in rascher Folge neue Romane
und Theaterstücke "auf den Markt warft", die alle recht erfolgreich sind.
Später, mit Handkes Eintritt in die Debatte um Serbien und den Jugoslawien-Konflikt, scheint
seine Kredibilität geschwächt und mit der allgemeinen Kritik, die er von den Medien und
Lesern/Zuschauern erfährt, verändert sich sicher auch die Rezeption seiner nachfolgenden
Werke.
19
Vgl. Katharina Pektor: Stationen am Theater. In: Handkeonline.onb.ac.at URL:
http://handkeonline.onb.ac.at/node/1866
(7.9.2015)
20
Vgl. Der Spiegel: Schriftsteller/Handke. Unerschrocken naiv. In: Der Spiegel 1970, H. 22, S. 174
URL:
http://magazin.spiegel.de/EpubDelivery/spiegel/pdf/44906306
(7.9.2015)

11
6. Fazit/Abschluss
Handkes
Publikumsbeschimpfung
und auch seine weiteren Bühnenwerke sind ohne Zweifel
revolutionär, gewagt und provokant. Die Kritik an der Literatur und auch am Theaterwesen,
die er mit seinen frühen Werken und den Essays in
Ich bin ein Bewohner des
Elfenbeinturms
übt, hat möglicherweise nicht den langfristigen Erfolg erzielt, den Handke
damals im Sinn hatte.
Vor allem deshalb glaube ich, dass die Aussage, die hinter diesen Werken steht, nach wie
vor nicht ihre Relevanz verloren hat. Auch nach fast 50 Jahren scheint mir die Kritik an der
Wiederholung und "Abnutzung" von Methoden nicht überholt zu sein, sondern
möglicherweise prominenter denn je.
In einer Zeit, in der man dank Eigenverlag und Internet von allen Seiten mit Literatur
geradezu überschwemmt wird, lässt sich leicht der Überblick verlieren. Diese Vielfalt der
Publikationsmöglichkeiten eröffnet zwar vor allem Chancen, mindert aber gleichzeitig auch
die Qualität eines Großteils der produzierten Werke.
Meiner Meinung nach bedarf es gerade jetzt, wieder oder immer noch einer Persönlichkeit,
die gängige Muster durchbricht, mit Altbekanntem kurzen Prozess macht und die Menschen
zum Nachdenken bewegt. Besonders in einer Zeit, die politisch und gesellschaftlich wohl
einmal mehr grundlegend für die kommenden Jahrzehnte sein könnte.

12
7. Literaturangaben
7.1 Primärliteratur
Handke, Peter: Publikumsbeschimpfung und andere Sprechstücke. Frankfurt am Main:
Suhrkamp 2012
7.2. Sekundärliteratur
Handke, Peter: Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms. Aufsätze. Frankfurt am Main:
Suhrkamp 1972
Kastberger, Klaus: Lesen und Schreiben. Peter Handkes Theater als Text. In: Ders. / Pektor,
Katharina (Hg.): Die Arbeit des Zuschauers. Peter Handke und das Theater. Salzburg/Wien:
Jung und Jung 2012, S. 35-48
Müller, Klaus-Detlef: Bertolt Brecht. Epoche - Werk - Wirkung. München: C. H. Beck 2009
7.3. Internetquellen
Hajer, Jan: Episches Theater. In: Unterricht.hajer.com
URL:
http://hajer.com/unterricht/deutsch/gattungen/drama/episches_theater.htm
(29.8.15)
Luft, Friedrich: Das Profil: Peter Handke - Gespräch mit Friedrich Luft. München: Bayrischer
Rundfunk Alpha 1969
URL:
https://www.youtube.com/watch?v=fMPW00m_gZc
(26.8.15)
Mühry, Andres / Sattler, Stefan: In den Rätseln bleiben!. In: FOCUS Magazin/7: 2007
URL:
http://www.focus.de/kultur/buecher/kultur-in-den-raetseln-bleiben_aid_227012.html
(26.8.15)
Pektor, Katharina: Publikumsbeschimpfung - Enstehungskontext. Handkeonline.onb.ac.at
URL:
http://handkeonline.onb.ac.at/node/296
(27.8.15)
Pektor, Katharina: Stationen am Theater. In: Handkeonline.onb.ac.at
URL:
http://handkeonline.onb.ac.at/node/1866
(7.9.2015)
Spiegel: Schriftsteller/Handke. Unerschrocken naiv. In: Der Spiegel 1970, H. 22, S. 174
URL:
http://magazin.spiegel.de/EpubDelivery/spiegel/pdf/44906306
(7.9.2015)
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Details
Titel
Peter Handkes "Publikumsbeschimpung". Ein Skandalwerk, betrachtet aus dem 21. Jahrhundert
Veranstaltung
Literaturwissenschaftliches Forschen - Peter Handke
Autor
Jahr
2015
Seiten
12
Katalognummer
V343710
Dateigröße
457 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Arbeit zitieren

, 2015, Peter Handkes "Publikumsbeschimpung". Ein Skandalwerk, betrachtet aus dem 21. Jahrhundert, München, GRIN Verlag, http://www.grin.com/de/e-book/343710/peter-handkes-publikumsbeschimpung-ein-skandalwerk-betrachtet-aus-dem

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