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PETER STRASSER
SICH MIT DEM SALBEI FREUEN
DAS SUBJEKT DER DICHTUNG BEI PETER HANDKE
=Der Dichter folgt der Moral der Kunst, die tief hinabreicht, da sie auch in den Blumen sich offenbart. Er blueht im Gedicht = es ist das Ziel, dem er sein Leben zum Opfer bringt.=Ernst Juenger, Autor und Autorschaft
1. =War is better than Monday morning=Der Krieg ist besser als der Montagmorgen. Das ist ein Satz aus dem Roman The Last Gentleman von Walker Percy, zuerst erschienen 1966.
Handke hat zwei Romane von Percy uebersetzt. Einer davon ist der soeben genannte. Er heisst im Deutschen Der Idiot des Suedens. =Sueden= bezieht sich auf den Sueden der USA, von wo Percys Romanheld, =Williston Bibb Barrett=, kurz =Will Barrett= oder =Billy Barrett=, herstammt und wohin er im Roman wieder zurueckkehrt. =Der Idiot= ist eine Anspielung auf die gleichnamige Titelfigur bei Dostojewski.
Der deutsche Titel ist reizvoll, aber wenig hilfreich. Denn er verlangt vom Leser Assoziationen, die sich ohne zusaetzliche Erklaerung nicht einstellen, waehrend ohne weiteres feststeht, warum Williston Bibb Barrett, ein junger Mann um die Fuenfundzwanzig, der =letzte Gentleman= ist. Barrett ist kein Idiot, sondern, wie es scheint, der Letzte seiner Art in einer Welt, in der man mitten im Frieden und fast jenseits jeder Konvention alle Anzeichen vitaler Lebendigkeit zeigen und dabei innerlich tot sein kann. Barrett ist hoeflich, auf einem Ohr taub, oft abwesend. An gestern und vorgestern kann er sich haeufig nicht erinnern, wohl aber an Ereignisse, die in seiner Kindheit stattfanden, und an solche, die vielleicht niemals geschehen sind. Er wird von Schwaermen von Deja vus heimgesucht, die ihn auf eigentuemliche Weise helfen, das, was er an Lebendigem in sich birgt, vor der laermenden Offenheit rund um ihn zu bewahren.
=War is better than Monday morning.= So lautet das Resuemee, das Barrett aus einer Betrachtung zieht, die er rueckblickend ueber seinen Vater anstellt. Zunaechst erinnert sich Barrett daran, dass an den Tagen, an denen es schlechte Neuigkeiten gab, dort, wo er zuhause war, ein eigentuemliches Phaenomen beobachtet werden konnte: Die Familien rueckten enger zusammen, man war auf einmal in der Stimmung, in der man die Azaleen betrachten undsehen konnte. Dann erinnert sich Barrett an die Hochstimmung seines Vaters, als dieser von Pearl Harbor hoerte und sich anschliessend beim Rekrutierungskommando meldete. Am 7. Dezember 1941 hatten japanische Flugzeuge den amerikanischen Flottenstuetzpunkt in Pearl Harbor angegriffen, am 8. Dezember erklaerte der amerikanische Praesident Roosevelt Japan den Krieg. An diesem Montag, so Barrett, sei es eine Freude gewesen, seinen Vater zur Arbeit gehen zu sehen. Ploetzlich hatten die Haeuser, die Baeume, ja selbst die Risse im Gehsteig ihr boesartiges Gegenwaertigsein verloren. Die schlimme Drohung, die sich jeden Morgen an Wochentagen einstellte, war auf einmal wie weggeblasen (Percy 1999, 94).
Dass Handke Percy mehrfach ins Deutsche uebertrug =vor The Last Gentleman schon The Moviegoer (1960) = beruht sicher auf einem Gleichklang von Motiven und Gefuehlen. Irgendwo hat Percy ausgesprochen, was auch Handke =zumindest der junge Handke = haette sagen koennen (und vielleicht hat er es gesagt): In der Moderne ist man entweder verrueckt und am Leben oder man ist normal und tot. Man ist am Leben, wenn man die Azaleen sehen kann, doch man kann sie nur sehen, wenn Krieg ist. Percy wollte natuerlich kein Plaedoyer fuer den Krieg halten, sowenig wie fuer den Wahnsinn, wohl aber auf ein tiefsitzendes Unbehagen hinweisen. Je weiter Freiheit, Aufklaerung und der soziale Friedensprozess fortschreiten, umso mehr scheinen die Seelen zu vereisen und die Menschen unfaehig zu werden, einander zu begegnen. Und das Einnehmende an Percys Sicht der Dinge besteht nun darin, dass sie nicht ins Zivilisationsstuermerische umkippt, auch in keine billige Modernitaetskritik einmuendet, sondern die Schrecken der Moderne als etwas vorfuehrt, worin sich die zerbrechlichen Helden bewaehren muessen. Das Problem ist, die Azaleen an einem Montagmorgen sehen zu koennen, an dem man nicht in den Krieg ziehen, sondern zur Arbeit gehen muss.
Im Hintergrund von Percys Zuversicht, aus der heraus die Buchhelden in einem liebenswuerdigen Licht erscheinen, steht eine Art katholischer Religiositaet, die um die Gestoertheit alles Menschlichen weiss und dabei um die Erfahrung des menschlich Unzerstoerbaren ringt. Dieser Haltung zufolge ist Jesus kein fanatischer anti-abortionist = wie die USA-Fundamentalisten predigen =sondern eine helle Quelle der Kraft, von der es im 1. Korintherbrief des Paulus heisst: =Fuer jetzt bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; doch am groessten unter ihnen ist die Liebe.= (1. Kor 13,13)
Der 1980 veroeffentlichte Nachfolgeroman zu The Last Gentleman heisst The Second Coming, und hier ist die Anspielung unmissverstaendlich. =The Second Coming= meint die Wiederkunft des Erloesers. Das scheint deshalb erwaehnenswert, weil es einen wichtigen Unterschied zu Handke markiert. Auch bei Handke nimmt das Motiv der Erloesung einen zentralen Platz ein, doch es hat bei ihm einen anderen Ton und eine andere Faerbung. Es ist trotziger, nervoeser, romantischer, insgesamt =gewollter= als in einer Umgebung, in der es als natuerlich gilt, sich endzeitlich zu orientieren und, als Teil der religioesen Lebensform, auf das letzte Gericht = the Last Judgment = zu vertrauen.
2. Handkes Antirealismus
In Handkes Schriftstellerleben spielt eine persoenlich durchlittene Schreibblockade die Rolle einer Katharsis. Sie leitet eine neues sprachliches Zur-Welt-Kommen ein. Handke selbst spricht gelegentlich von dem Sprachverbot, dem er unterworfen gewesen sei. Die Lehre der Sainte-Victoire, im selben Jahr wie The Second Coming publiziert, ist Handkes Hommage an den Gebirgszug, der Paul Cezanne zu einer Reihe seiner wirkmaechtigsten Bilder inspirierte; zugleich kann die Lehre als eine Art kuenstlerisches Wiedergeburtsbuch gelesen werden.
Vor der Blockade finden sich bei Handke Werke, in denen die moderne Form der Beziehungsunfaehigkeit auf ein sprachliches Niveau gehoben wird, an das kaum ein anderer Schriftsteller deutscher Zunge herankommt. Handkes Journal Das Gewicht der Welt =es reicht vom November 1975 bis Maerz 1977 = gehoert zu den Hoehepunkten des Genres. In keinem anderen Werk der deutschsprachigen Literatur hat es ein Autor gewagt, sich selbst, sein eigenes Fuehlen und Leiden, derart kompromisslos in den Mittelpunkt zeitdiagnostischer Miniaturen zu stellen.
Radikale Subjektivitaet, so scheint es rueckblickend, war notwendig, um an den Grund einer schwer definierbaren allgemeinen Misere zu ruehren. Statt Das Gewicht der Welt haette Handke die Taschenbuchausgabe gerne Phantasie durch Ziellosigkeit genannt (vgl. Handke 1979, 8). Und in der Tat: Vom Gewicht der Welt ist in dem Buch schon deshalb nicht die Rede, weil sich der Autor keiner Tradition mehr verpflichtet weiss, in der ein Begriff wie =Welt= noch in der Lage gewesen waere, etwas zu bezeichnen, was einem Einzelnen zur Last und zur Aufgabe haette werden koennen. Das Gewicht der Welt = die pathetische Wendung hat fuer die Misere des jungen Handke nur insofern Bedeutung, als hier einer beobachtet und schreibt, dessen Welt zu einer Nussschale geworden ist, worin man kauert und dabei an sich selbst zu ersticken droht.
Die Misere, von der ich rede, war nicht einfach die der =Moderne= =was immer die Misere der Moderne sein mag =sondern spezifischer, aber auch undeutlicher: die Misere der Moderne der deutschen Nachkriegsgeneration. Ihre intellektuellen Vertreter waren kulturelle Modernisten (und dabei haeufig antiamerikanisch). Darueber hinaus waren sie die traumatisierten Vertreter einer Generation, die man als die der Flakhelfer charakterisiert hat. Es handelt sich um jene Leute, welche den Sturz des Nationalsozialismus als Jugendliche miterlebt hatten = ein Ereignis, das die Moeglichkeiten des Geistes in Deutschland und oesterreich nach 1945 bestimmte. Welche Moeglichkeiten das waren und, vor allem, warum man sich von ihnen nicht immerfort bestimmen lassen konnte, hat dann der junge Handke, Jahrgang 1942, in der fuer ihn typischen Mischung aus Bockigkeit, Charme und Angriffslust dargetan.
Auf mich, den um acht Jahre Juengeren, wirkte Handkes Wendung gegen das engagierte Schriftstellerwesen und dessen Hang zu einer =realistischen= Literatur wie ein befreiender Rundumschlag. Beide Phaenomene gehoerten in der deutschen Nachkriegsliteratur eng zusammen und meinten im Grunde dasselbe. Realistisch zu sein, bedeutete, sich der wahren Ursachen menschlicher Konflikte anzunehmen = und das menschliche Leben erschien als eine Anhaeufung von Konflikten =wobei die wahren Ursachen sozialer, oekonomischer und historischer Natur waren. Engagiert zu sein, bedeutete, realistisch zu sein, um fuer ein besseres Leben zu kaempfen. Im Ergebnis hiess das fast immer: Kampf gegen Ausbeutung, Faschismus, Kleinbuergergemuetlichkeit, Mittelstandsstrebertum und Geschichtsverdraengung.
Zu all dem konnte man als einigermassen aufgeklaerter Mensch nur Ja sagen. Und dennoch: Das alles wirkte auf mich, ebenso wie auf viele andere junge Leute, in gewisser Weise wie der Deckel auf einen Sarg. Eine Literatur, die den Montagmorgen immer wieder als das schilderte, was er war =als den grauen ersten Werktag ohne Gesicht nach dem Wochenende mit Familie Lieblos = eine solche Literatur bestaetigte nur wider Willen den Satz: =War ist better than Monday morning.= Das Engagement uebersah, dass es nichts zu offerieren hatte, was dem veroedeten Einzelnen als Sinn seines Lebens haette einleuchten und wofuer zu leben sich haette lohnen koennen. Alles in dieser Grisaille passte zusammen, Ausweg schien es keinen zu geben.
ueberall war Post-Auschwitz. Theodor W. Adorno, die einschuechternde Stimme der neulinken Frankfurter Schule, lieferte die Stichworte. Nach Auschwitz, so lautete zunaechst sein Dekret, ist kein Gedicht mehr moeglich. Was von Hegel noch uebrig blieb, das hiess fortan =konkrete Negation= und meinte die je spezifische Verneinung des je spezifisch Existierenden. In seinerNegativen Dialektik von 1966 nahm Adorno dann immerhin zurueck, dass nach Auschwitz kein Gedicht mehr moeglich sei. Tatsache ist: Nach Auschwitz waren vielleicht mehr deutsche Gedichte ueber die Moeglichkeit von Gedichten geschrieben worden als deutsche Gedichte jemals zuvor. Dafuer tadelte Adorno nun die =gluecklich Entronnenen=, jene, die Auschwitz entkommen waren und ihren Erfahrungen im Konzentrationslager einen Nutzen abpressen wollten, indem sie die Zukunft optimistisch sahen. Wenn schon Gedichte sein mussten, dann wenigstens keine gluecklichen (Adorno 1970, 353 f u. 358 f).
Gegen die deutsche Misere hielt Handke standhaft seine eigene. Das konnte er nur, weil er sie noch in diesem Leben, als Kuenstler, zu ueberwinden hoffte. Was im intellektuellen Deutschland und oesterreich, ob unter protestantischen Atheisten oder katholischen Kommunisten, verpoent war, galt Handke als hoechstes Strebensziel: Er wollte Erloesung durch Kunst, ohne anfangs das Ziel, geschweige denn den Weg zu kennen. Spaeter wird er sagen, dass das Ziel alles und fast nichts sei, und dass es im wahren Kunstwerk um die Gestaltwerdung des =Fast-Sprachlosen=, das doch alles sei =ein wunderbares Nichts= = gehe (vgl. Handke 1983, 33).
Bevor er aber so sprechen kann, fast so, wie ein verschmitzter chinesischer Philosoph, muss er reinen Tisch machen. Er attackiert die Gruppe 47, jene Vereinigung deutscher Autoren, die sich 1947 zusammentaten, um dafuer zu sorgen, dass in der Kunst fortan ein kritisches Bewusstsein gegenueber den politischen Verhaeltnissen im Lande gepflegt werde. Handke eroeffnet mit zwei Beitraegen, Die Literatur ist romantisch (1966) und Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms (1967), Konfrontationslinien, von denen er auch spaeter nicht mehr abweichen wird:
Erstens, er, Handke, ist kein engagierter Schriftsteller, sondern ein Bewohner des vielgeschmaehten Elfenbeinturms, in dem niemand sitzen bleiben wollte. Waere diese Haltung bloss persoenlicher Natur gewesen, dann haette sie vermutlich niemanden zum Widerspruch gereizt. Doch sie war aesthetisch gemeint, und das aesthetische wurde als =gesellschaftspolitische= Kategorie verstanden. Insofern war Handkes Elfenbeinturm eine oeffentliche Trutzburg. Wogegen? Gegen die nach 1945 gebetsmuehlenartig wiederholte Ansicht, man muesse sich als Autor in den Dienst der guten Sache stellen, namentlich der antifaschistischen, antikapitalistischen, antiamerikanischen. Dem haelt Handke entgegen, dass das einer Liquidierung der Kunstsache gleichkommt. Kunst ist, was immer sie an Absichten mit sich fuehrt, im Wesen reine Kunst oder gar keine. Sie verdankt sich entweder der zwecklosen Anschauung der Welt durch den Kuenstler, der dabei keinen aeusseren Interessen dient (und seien sie moralisch auch untadelig), oder sie ist eine Hure ihr wesensfremder Angelegenheiten. Viele, ich eingeschlossen, haben Handkes Anliegen auf der Stelle verstanden, waehrend es nicht wenigen professionellen Kritikern suspekt war. Da hob einer den Sargdeckel und man konnte wieder aufatmen: Frische Luft!
Zweitens, Handke unterstuetzte seine Attacke gegen das Engagement des Kuenstlers, indem er sie mit einer Kritik dessen verband, was er die realistische Schreibweise nannte. Darunter verstand er nichts, was sich haette unter die gleichnamige germanistische Kategorie subsumieren lassen. Er verstand darunter vielmehr das eigenartige Bemuehen namhafter deutscher Nachkriegsautoren, ihre Subjektivitaet aus dem Dargestellten auszublenden. So sollte dem Leser das objektiv Reale, =Unhintergehbare=, der sozialen Verfasstheit aller Tatsachen des Lebens vorgefuehrt werden, um sie dann, nach dem Muster fortschrittlicher Gesellschaftskritik, in ein entsprechend moralisiertes Licht zu ruecken. Dagegen setzte Handke die These, der Realismus in der Literatur sei nur eine moegliche Darstellungsform unter vielen, wenn es darum gehe, worum es in der Kunst einzig gehen kann, naemlich, der Wirklichkeit aesthetisch gerecht zu werden (Handke 1969a, 264 ff).
Das war eigentlich keine besonders originelle These, zumal nach den avantgardistischen Umbruechen in der Kunst seit dem spaeten 19. Jahrhundert. Herausragend war das Beispiel des Impressionismus, der in seiner Spaetform bei Cezanne fuer Handkes Werk besondere Bedeutung erlangt. Der Aufstand der Impressionisten gegen die sogenannten Akademiker war ein Aufstand der Wirklichkeit als Praesenz (reines Licht, reine Farbe, draengendes, spielerisches Ineinander von Formen und Gestalten) gegen das =realistische= Schattieren, die =realistische= Perspektive, die =realistische= Kontur, die =realistische= Darstellungstechnik jenes kunsthandwerklich meisterhaften Genres, in dem sogar noch die Kuehe auf der Weide aussahen, als ob sie in einem grossbuergerlichen Salon wiederkaeuten. Handke, dem Augenmenschen und spaeteren Dichter des Schauens, musste klar sein, dass auch seine Gegner um die konstruktive Form jeder Wirklichkeitsdarstellung wussten.
Doch Handke wollte nicht bloss sagen, dass der Realismus in der Literatur eine von vielen moeglichen Darstellungsformen sei. Er wollte vielmehr klarstellen, dass die realistische Darstellungsform hier und jetzt der Wirklichkeit nicht mehr gerecht wurde. Denn der =Realismus= (oder das, was Handke so nannte) war zu einer Manier verkommen, um ein politisches Programm (oder das, was man dafuer hielt) zu transportieren. Die Literatur, die vorgab, den Tatsachen ins Auge zu blicken, toetete in Wahrheit den Wirklichkeitssinn ab, statt ihn zu ermoeglichen. Handke liess keinen Zweifel daran, dass der realistische Gestus in seinen verschiedenen Nachkriegsspielarten zum Totengraeber eines jeden lebendigen Weltbezugs geworden war. Was der engagierte Autor in kritisch-realistischer Manier auftischte, vernichtete die Empfaenglichkeit fuer das Reale, so wie der Akademismus des 19. Jahrhunderts die Wirklichkeit jener Dinge vernichtet hatte, die zu zeigen erst der Sensibilitaet der Impressionisten wieder gelang.
Noch in Handkes Kindergeschichte aus dem Jahre 1981, dem Buch des alleinerziehenden Vaters ueber seine Tochter, findet sich ein wuester Ausbruch gegen die =Realitaets-Tuemler= (Handke 1981, 86). Das waren die linkssoziologischen Erben der Nachkriegsrealisten, die gerne von =Kinderaufzucht= sprachen, wenn es um die Pflichten und Freuden der Elternschaft ging. Von diesen Zeitgenossen heisst es, sie seien als Folge ihrer ideologisch gepanzerten Wirklichkeitslosigkeit und der damit einhergehenden Sprachverwuestung =Handke fuehlt sich angesichts der Expertisen manch ueberzeugt Kinderloser an das =Gescharre von Krebsscheren= erinnert =allesamt reif fuer den Krieg (Handke 1981, 42 u. 87). =War is better than Monday morning=, nur dass es keinen Krieg gab, bloss friedliche Montage Morgen, die zu hassen Handkes Wirklichkeitsloser nicht muede wurde.
In dem Essay Die Literatur ist romantisch hat Handke beschrieben, was ihn an der =engagierten= Haltung abstiess, die Peter Weiss auf einer Tagung mit dem Titel Der Schriftsteller in der Wohlstandsgesellschaft = schon der Titel ist diese Haltung =zum Ausdruck brachte:
=Lange Zeit hatte er innerhalb der Tuer gelebt, hatte sich nur um sich selber gekuemmert, war sich selber genug gewesen, sometimes making love with someone. Dann aber war er vor die Tuer getreten und hatte bemerkt, dass es ausser ihm noch Menschen gab. Er war nicht allein auf der Welt. While he was making love inside the door, starben draussen Tausende am Krieg, an Unterdrueckung, Hunger, Armut: an gesellschaftlichen Verhaeltnissen. Da erkannte er, dass er etwas 'unternehmen' muesste. Er engagierte sich. Und er engagierte sich als Schriftsteller.= (Handke 1969b, 273)
Rueckblickend betrachtet, mag Handkes cooler Hohn als ungerecht erscheinen. Doch zugleich war es das Urteil einer Generation, die nach Luft schnappte. Wir lernten im germanistischen Seminar, dass die immanente Interpretation literarischer Werke ausgespielt habe. Sie sei, so lehrte man uns, hoffnungslos naiv und im uebrigen ideologisch, weil sie so tue, als ob das Kunstwerk eine Insel fuer sich sei, unabhaengig von den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die den Kuenstler zuinnerst formten. Der Germanist auf der Hoehe der Zeit war Soziologe und Strukturalist. Die neue Lehre war leicht zu verstehen, spielend zu handhaben und unuebertrefflich, was ihr kritisches Potential betraf. Ganze Epochen liessen sich im Handstreich entlarven, relativieren, erledigen. Was mich betraf, so hatte ich mich der Mode durchaus angepasst und dabei aber insgeheim= jedenfalls kommt es mir heute so vor =mit der Gegenseite sympathisiert. Moege doch das Kunstwerk sein, was es nicht sein durfte: eine Insel fuer sich!
3. Im Elfenbeinturm: das Sprachspiel der Erloesung
International gesehen war die Kunstlage ohnedies komplexer. Es gab die Popkultur, von der auch der junge Handke zehrte. In ihr verschmolz ein Generationenkonflikt, der sich als politische Revolte stilisierte, mit einem Radikalhedonismus, dem der deutsche Intellektuelle nur verbissen nacheifern konnte.
Vieles auch spielte an der Grenze zum Wahnsinn. Mao Tse-tung, Fuehrer der chinesischen Kulturrevolution (1965/66), war ploetzlich ein Popstar, der von Andy Warhol portraetiert wurde. Niemand unter den antibuergerlichen, systemkritischen, friedensbeseelten Jungen schien es zu stoeren, dass eben jene Revolution, die damit begonnen hatte, tausend Blumen bluehen zu lassen, in einem Meer von Blut und Traenen vonstatten ging. Niemand schien es zu stoeren, dass Schueler gegen ihre Lehrer und Kinder gegen ihre Eltern gehetzt wurden, dass aus politischem Machtkalkuel die niedrigsten Impulse wie Neid, Zerstoerungssucht, Diffamierungslust und Neroismus freigesetzt wurden, notduerftig getarnt als Zerschlagung jedweder falschen Autoritaet in jedweder sozialen Erscheinungsform.
Im Gegenteil: Waehrend Mao als Held der Grossen Proletarischen Revolution gefeiert wurde, verspielte in den Augen vieler Intellektueller und Kuenstler das =westlich-kapitalistische System= seine Glaubwuerdigkeit endgueltig durch Amerikas Engagement in Vietnam, ein Desaster ueber drei Praesidenten hinweg (Kennedy, Johnson, Nixon). Um den kommunistischen Vietkong zu bekaempfen, wurden allein von 1965 bis 1968 auf Nordvietnam zweieinhalb Millionen Tonnen Bomben abgeworfen, mehr als waehrend des gesamten Zweiten Weltkriegs. Als 1970 an der Kent State University, bei Demonstrationen gegen die Invasion amerikanischer Truppen in Kambodscha, vier Studenten erschossen wurden, konnte man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass nun die Supermacht USA den letzten Schleier der Humanitaet hatte fallen lassen. Und sichtbar geworden war die ewiggleiche Fratze des Faschismus...
1973, als der Vietnamkrieg unter Nixon am Vorabend des Watergate-Skandals beendet wurde, war Handke bereits ein Star der deutschen Literaturszene. Dabei schien sein fruehes Werk geeignet, sich als originelle Symbiose von Pop-Egozentrik und literarischem Konstruktivismus darzubieten. Schon 1969 war die Textsammlung Die Innenwelt der Aussenwelt der Innenwelterschienen. Der Titel wirkte genial: zugleich hip und verspielt polemisch. Man konnte, wenn man wollte, das kleine Werk als ein Gegenprogramm zur (damals bereits auseinander gegangenen) Gruppe 47 lesen. Auf deren politischen Ernst, antiautoritaeres Pathos und zeitkritischen Eifer reagierten Handkes Texte in mehrfacher Weise.
Zum einen wurde, ganz im Stile der neuen Alltagskultur, an die Stelle wichtiger =Themen der Zeit= das massenhaft Banale gesetzt und zelebriert: die Aufstellung eines Fussballvereins bei einem bestimmten Spiel (1. FC Nuernberg am 27. Januar 1968), die japanische Hitparade vom 25. Mai 1968, ein Kreuzwortraetsel, die Besetzungsliste zu einem amerikanischen Film. Poesie zu machen war keine Kunst, und das Leben spielte nicht im Seminar. Das Leben war Poesie.
Zum anderen schob Handke die Trennung von Innen und Aussen, Subjekt und Welt, Sprache und Wirklichkeit geradezu laessig =als ob es sich dabei um eine quantite negligeable handelte =beiseite. Der Satz zum Beispiel =Da sitzt etwas auf dem Papier= wird an der Stelle fast unleserlich, wo etwas auf dem Papier sitzt (Handke 1969c, 105). Vor allem aber ignorierte Handkes Innenwelt der Aussenwelt der Innenwelt kommentarlos die Hierarchisierung, die unter engagierten Schriftstellern ueblich war: hier der determinierte ueberbau (Subjekt, Geist, Sprache, Kultur), dort die determinierende Basis (die soziooekonomischen Verhaeltnisse).
Ignoriert wurde die Basis-ueberbau-Lehre indessen nicht zugunsten einer neuen Innerlichkeit, die man Handke immer wieder vorgeworfen hat. Textleitend war vielmehr der Titel, buchstaeblich genommen. Die Wirklichkeit ist ein Konstrukt des Betrachters und der Betrachter seinerseits ein Konstrukt der Sprache, die er verwendet, um die Wirklichkeit zu betrachten. Man haette das Ganze als eine Art Pop-Hegelianismus lesen koennen. Doch die Angelegenheit war = wie so viele deutsche Angelegenheiten (wozu die oesterreichischen in der Schriftstellerei notgedrungen auch zaehlten) =wohl zu ernst, als dass man sie haette leicht nehmen koennen. Handke, ein neuer deutscher Ernstfall der Kunst?
Offen muss bleiben, ob man damals, 1969, schon verstanden hat, worauf Handke intuitiv hinauswollte. Wahrscheinlich ist, dass er mit sich selbst noch nicht im Reinen war. Aus Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen, einem intellektuellen Kultbuch, in das Handke wie viele andere hineingeschnuppert hatte, war ihm wohl die Idee der Sprachspiele vertraut. Einigen Stellen bei Wittgenstein mochte man entnehmen, dass, erstens, die Wirklichkeit immer nur im Rahmen von Sprachspielen das ist =das Ganze: der Sprache und der Taetigkeiten, mit denen sie verwoben ist= (PU =darstellbar sei, und dass, zweitens, es nicht bloss ein richtiges Sprachspiel gaebe, sondern viele, die gleichberechtigt nebeneinander stuenden.
Wittgenstein schien zu sagen, dass Lebensform, Sprachspiel und Wirklichkeit voneinander unabloesbar seien, sich wechselseitig bedingten. Jedenfalls ist es das, was Handke von Wittgenstein uebernimmt, um damit seine eigene antirealistische Tendenz zu untermauern. Die Abwertung des Subjekts als Erkenntnisquelle in der Literatur = was ist das, wenn nicht die Folge eines =Sprachspiels=, in dessen Rahmen alles Bewusstseinsartige die Rolle eines Abgeleiteten zu spielen hat, waehrend die Tatsachen der =materiellen= Welt, ob physisch oder institutionell, automatisch als fundamental betrachtet werden? Der Bewohner des Elfenbeinturms hingegen hat eine andere Lebensform gewaehlt. Das bedeutet, dass er ein anderes Sprachspiel spielt, was wiederum bedeutet, dass seine Wirklichkeit eine andere ist.
Doch nun kommt erst der Punkt, der Handkes Entwicklung so reizvoll macht und sie von den gaengigen Wegen des Kulturbetriebs abtrennt. Handke will der Tendenz nach nicht sagen, dass seine Lebensform =oder die Lebensform, die ihm als Ideal vorschwebt = eine unter vielen moeglichen sei. Das haette jeder x-beliebige Subjektivist, jeder Strukturalist, Relativist, Postmodernist auch sagen koennen. Nein, Handke will sagen, dass seine Lebensform die im Grunde einzig moegliche ist, falls man in der Kunst danach strebt, im Einzelfall das Wesen der Wirklichkeit der Dinge, ihr Sein, hervortreten zu lassen = das, was einst, im Zeitalter der Klassik, durch die Trinitaet des Wahren, Guten, Schoenen angezeigt wurde und was Handke schliesslich den =Freudenstoff= nennt. In den Phantasien der Wiederholung koennen wir lesen (Handke 1983, 86 u. 89):
=Ja, aufatmen die Dinge! (Aufatmen / die Dinge: so wuerde ich M'illumino / d'immensouebersetzen)=
=Jetzt kann ich sagen, was 'das Sein' ist: der Freudenstoff; Sein, / Freudenstoff! (M'illumino /d'immenso)=
Um was denn sonst, scheint Handke unentwegt zu fragen, sollte es in der Kunst letzten Endes gehen? Handke interessiert nur eines: die Suche nach dem Ort des Seins und Daseins, wo Subjekt und Objekt im Einklang zueinander stehen und einander zwanglos bereichern. Handkes ideales Sprachspiel orientiert sich, wie jedes seiner spaeteren Werke mit immer groesserer Dringlichkeit zeigt, an einem Absolutheitshorizont: dem, das laesst sich nicht bescheidener sagen, Horizont der Erloesung. Das geglueckte Leben, wie es der Dichter phantasiert, und die Erloesung gehoeren zusammen.
Warum aber der Elfenbeinturm? Weil die Idee des geglueckten Lebens verlangt, die Einzeldingesub specie aeternitatis zu sehen, das heisst, unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit =so, wie man die Azaleen am Montagmorgen auf dem Weg zur Arbeit sehen sollte = und weil so ein Sehen voraussetzt, dass die Phaenomene nicht bloss Teile der Nutzen- und Funktionswelt sind. Der Elfenbeinturm ist ein Symbol fuer den Standort des Dichters, der unendlich danach strebt, durch die Gestaltungsmagie seines Werkes die Dinge zu erloesen = und mit den Dingen sich selbst.
Damit wird Handke fuer einen Grossteil der Kritik auf lange Sicht obskur. Noch ist es allerdings nicht soweit. Ein Werk wie ueber die Doerfer, das dramatische Gedicht, in dem eine Frauengestalt namens Nova nicht weniger als das neue Zeitalter der Versoehnung zwischen Mensch und Mensch, Mensch und Natur ausruft, wird erst 1981 veroeffentlicht und 1982 in Salzburg uraufgefuehrt. Vorerst ist es noch die Zelebrierung der eigenen Subjektivitaet, die Nabelbeschau der eigenen Wehwehchen und Entrueckungen, die man Handke vorwirft.
Der Kritiker sagt etwa: Im Gewicht der Welt finden sich viele Notizen, die nichts ueber die Welt aussagen, sondern nur etwas ueber die Welt, wie sie Handke erscheint. Mir, sagt der Kritiker, erscheint die Welt auch, aber weil ich ein anderes Subjekt bin als Handke, erscheint sie mir logischerweise anders. Und ist nicht =so faehrt der Kritiker fort =das ganze Spiel muessig? Angesichts der Tatsachen des Lebens, die sich weder um mich, noch um Handke kuemmern, muss die Frage gestattet sein, warum gerade die Wehwehchen und Entrueckungen des Dichters wichtiger sein sollten als die von Herrn und Frau Jedermann? Handke pflegte auf derlei Einwendungen unwirsch zu reagieren, nicht selten mit einer Beschimpfung des Kritikers. Das war ihm nicht zu veruebeln, freilich, Antwort war das keine.
4. aesthetische Offenbarung und naturalistisches Weltbild
Was Handke an der Kritik reizte, lag auf der Hand. Es war die Zumutung, dass die Art und Weise, wie im gelungenen Werk die Dinge zur Sprache gebracht werden, sich im Grunde nicht von der Art und Weise unterscheidet, wie irgendein aufgeblasener Frosch seine =Subjektivitaet= in Stellung bringt. Handkes Bewohnen des Elfenbeinturms geht mit der ueberzeugung einher, dass die poetische Subjektivitaet nichts im psychologischen oder erkenntnistheoretischen Sinne bloss Subjektives sei. Das Bewusstsein des Dichters ist demnach ein Medium, in dem die wesenhafte Wirklichkeit der Dinge durch die sprachliche Gestaltung einzelner Phaenomene hindurch hervortritt.
Wenn Handke Philosoph gewesen waere und einem Erkenntnismodell das Wort haette reden wollen, dann bestimmt keinem Repraesentationsmodell und gewiss auch keinem Fabrikationsmodell der Erkenntnis. Weder geht es in der Dichtung darum, Fakten abzubilden, noch darum, eine inspirierte Wirklichkeitskonstruktion zu liefern. Handke, und ich sage das mit Bedacht, haette einem aesthetischen Offenbarungsmodell das Wort geredet. Denn im Dichter = das ist eine von Handkes Grundueberzeugungen = offenbart sich das Sein der Dinge. Dadurch hat die Subjektivitaet des Dichters einen prinzipiell anderen Status als jene, die man zugunsten der Objektivitaet der Erkenntnis aus der Wissenschaft zu eliminieren trachtet.
Ich spreche ein wenig zoegernd von einem =aesthetischen Offenbarungsmodell=, weil ein solches Modell in der heutigen Kunst jedenfalls anachronistisch anmutet. Das Modell beruht auf einer Abstraktsetzung dessen, was einstens der Einbruch goettlicher Stimmen, spaeter dann der Stimme des einen Gottes in die enge Hoehle des menschlichen Bewusstseins war. Die Abstraktsetzung findet sich bereits bei Plato, wo die Rolle des zur Gottheit strebenden Subjekts deutlich autonom, also philosophisch und poetisch gedacht wird. Man kann, so lehrt das Hoehlengleichnis der Politeia, durch eine Reinigung des Geistes den Aufstieg aus dem Reich der sinnlichen Schatten zum Licht des unverschattet Realen, der Idee des Guten (die das Wahre und Schoene einschliesst) befoerdern. Allerdings, so lehrt uns Plato auch, sind nur wenige Menschen geeignete Medien, um die volle Wirklichkeit in ihrem vollen Glanz zu schauen. Das Offenbarungsmodell ist religioes und es ist idealistisch. Nur wenn die Welt in ihrem Wesen goettlicher Geist ist, der unseres Bewusstseins bedarf, um sich auszudruecken und zu vollenden, ist Offenbarung in einem nicht-mythologischen Sinne ueberhaupt denkbar.
Das Offenbarungsmodell wirkt nun aber anachronistisch in einer Welt, deren Ontologie naturalistisch geworden ist. Naturalistische Ontologie bedeutet, dass die Bestimmungsstuecke dessen, was beanspruchen darf, wirklich zu sein, von den empirischen Wissenschaften und ihrer Methode der Wirklichkeitserfassung festgelegt werden. Bedeutungen und Werte gehoeren demnach nicht zu den Grundbausteinen der Welt. Der neoempiristische Philosoph John L. Mackie hat das anti-idealistische Argument des Naturalismus als the argument from queernessbezeichnet (Mackie 1977, 38 ff). =Queer= meint im Englischen =strange=, =odd=, abwertend auch =homosexual=. Was =queer= ist, steht quer zur normalen Verlaufsrichtung der Dinge. Mackies Argument besagt, dass der idealistische Versuch, Bedeutungen und Werte zur Grundausstattung der Welt zu zaehlen, in die elementare Struktur des Universums Elemente einfuehren moechte, die dort Fremdkoerper waeren.
Mit dieser Auffassung verbinden sich zwei Konsequenzen: Zum einen, alle Fakten des Bewusstseins sind sekundaerer Natur, folglich ist das aesthetische Offenbarungsmodell samt seiner medialen Auffassung des dichterischen Subjekts Unsinn. Zum anderen, in der Welt an sich gibt es keine Bedeutungen und Werte, die unseren Begriffen Sinn und unseren Urteilen Wahrheit verleihen koennten. =Bedeutung= und =Wert= sind Realitaeten, die wir selbst erzeugen.
In den Salzburger Notizen Am Felsfenster morgens (und andere Ortszeiten 1982â€â€Å“1987) freut sich Handke an einem schoenen Tag ueber die Pflanzen vor seinen Augen, namentlich ueber den Salbei, und schreibt (Handke 1998, 43):
=Die Sonne scheint warm, und ich freue mich mit den Pflanzen (z. B. dem Salbei dort)=
Sich mit dem Salbei zu freuen, waere eine ganz und gar sinnlose Haltung unter der Voraussetzung, dass Naturdinge es nicht zuliessen, von ihnen zu sagen, sie empfaenden =Freude=. Wenn allerdings Handkes Haltung keinen Sinn haette, dann waere jede poetische Sichtweise der Natur auf eine unhintergehbare Weise subjektivistisch. Das spezifisch Poetische in der Auffassung der Welt waere dann reine Zutat des Subjekts, das die Welt erfaehrt.
Man weiss, welche aesthetik im Subjektivismus ihren Ursprung hat. Es ist die Auffassung, dass die poetische Verwendung der Sprache kein Erkenntnismittel, sondern ein Ausdrucksmittel sei =ein Mittel des Ausdrucks all der Gefuehle, die den Dichter in der Konfrontation mit der Welt erregen. Sich mit dem Salbei zu freuen, kann demnach nur heissen, erstens, angesichts des Salbeis ein Gefuehl der Freude zu empfinden, zweitens, dieses Gefuehl in den Salbei hinein zu verlegen, um es schliesslich, drittens, wieder aus dem Salbei herauszulesen. Auf diese Weise wird der Salbei =irrigerweise= so beschrieben, als ob es sachlich angebracht waere, sich mit ihm zu freuen. Das nennt man Poesie.
Die naturalistische aesthetik passt zu allen =realistischen= Doktrinen, die im Geistigen nichts Fundamentales erblicken. Deshalb ist sie unvereinbar mit dem, was Handke fuer die eigentliche Aufgabe des Kuenstlers haelt. Der wahre Kuenstler ist Idealist. Ihm zufolge muessen die Tatsachen der Welt objektiv Bedeutung haben und Teil einer Werteordnung sein. Fuer Handke heisst das wohl auch: Sie muessen sich auf einen Wertehorizont beziehen lassen, der geeignet ist, der Idee des geglueckten Lebens und, in letzter Konsequenz, der Absolutidee der Erloesung einen Anhalt im Sein der Dinge zu geben.
Die naturalistische aesthetik hat notwendig zur Folge, dass alles Poetische in der Kunst jenseits der Erkenntnis zu liegen kommt. Das Poetische ist =schoener Schein=, nicht mehr und nicht weniger, weil es seinen Reiz daraus bezieht, so zu tun, als ob der Mythos Wirklichkeit und die Metapher Realitaet waere. Fuer den naturalistischen aesthetiker ist das Poetische ein Spiel, und sobald es kein Spiel mehr ist, wird es Ideologie und Wahnsinn. So ein aesthetiker koennte, sei es aus Neugierde oder aus Besorgnis, geneigt sein, Handke zu fragen, ob er allen Ernstesmeine, dass man sich mit dem Salbei freuen koenne. Falls Handke einen seiner verschmitzten Augenblicke hat, wird er dagegen fragen: =Was meinen Sie mit 'allen Ernstes'?= Aber das ist eben keine Antwort.
Wir alle wissen, was wir im normalen Sprachgebrauch darunter verstehen, dass sich jemand mit jemand anderem freut. In diesem Sinne ist eine Art der Reizverarbeitung gefordert, wie sie fuer Menschen und hoehere Saeugetiere, also Besitzer eines zentralen Nervensystems, typisch ist; und in diesem Sinne kann sich der Dichter mit dem Salbei nicht freuen. In welchem Sinne dann? Hier, so moechte man sagen, scheiden sich Geister und Welten. Denn um sich mit dem Salbei allen Ernstes freuen zu koennen, muss man dem Gedanken der Beseeltheit oder Geistigkeit der Welt intuitiv nahe stehen =was Handke wohl tut = waehrend der Naturalist darin nur das Symptom einer Unaufgeklaertheit, wenn nicht sogar einer Stoerung im Weltbezug, erblicken mag.
Und nicht bloss der Naturalist im engeren Sinne des Wortes urteilt auf diese Weise; es scheint, dass der typisch moderne Standpunkt ihm mehr oder minder ausdruecklich sekundiert. Beispielsweise findet sich in der elektronischen Ausgabe des Brockhauses (multimedial-2002-premium) unter dem Stichwort =Handke= folgende Charakterisierung: =Mit der ErzaehlungLangsame Heimkehr (1979), die auch den uebergreifenden Titel fuer die folgenden Werke liefert (Die Lehre der Sainte-Victoire, 1980, Prosa; Kindergeschichte, 1981, Erzaehlung; ueber die Doerfer. Dramatisches Gedicht, 1981), fand Handke zu einer hochstilisierten Sprache, die den Selbstfindungsprozess nun in teilweise mythisch ueberhoehten Metaphern beschreibt. Schreiben ist fuer ihn Form- und Forschungsarbeit, Moeglichkeit des Aufdeckens von Lebensstrukturen.= Waehrend der letzte Satz durch die Wendung =das Aufdecken von Lebensstrukturen= so gut wie nichts ueber Handkes Werk verraet, wird dessen Besonderheit durch den vorhergehenden Satz in ein Licht gerueckt, das dem Leser schon einiges andeutet.
Was der Autor seit 1979 an Selbstfindungsprosa publiziert, sollte demnach mit Vorbehalt konsumiert werden, denn sie besteht zu einem Teil aus =mythisch ueberhoehten Metaphern=. Der geuebte Leser weiss, dass eine Metapher, die mythisch ueberhoeht ist, ein Interpretationsproblem darstellt. So eine Metapher ist eine Exaltation, die anzeigt, dass der Autor sich entweder nicht auf der Hoehe der Zeit befindet (er ist vielleicht religioes blockiert), oder mit uns sein postmodernes Spiel treibt, indem er gewisse Archaismen zum aesthetischen Genuss aufbereitet. Fuer Handke bleibt da nur der Platz desjenigen, der sich nicht auf der Hoehe der Zeit befindet. Waehrend fuer den modernen und postmodernen Menschen der Mythos abgetan ist, scheint er fuer Handke = siehe Nova = gerade das Wahre zu sein.
Doch das geht an der Sache vorbei. Der Bewohner des Elfenbeinturms ist kein Mythomane, er ist Idealist. Als solcher glaubt er daran, dass Bedeutung und Wert im Aufbau der Welt eine grundlegende Rolle spielen. Er glaubt intuitiv an eine =axiologische Richtung=. In jedem versuchten Akt der Selbstfindung steckt demnach eine Anstrengung, die auf ein unerreichbares und dennoch objektives Ziel hindeutet: Ruecknahme der Entzweiung, Erloesung vom uebel. Kurz gesagt: Es handelt sich nicht um eine Regression, fuer die das Lexikon dezenterweise die Wendung =mythische ueberhoehung= gebraucht, sondern um eine metaphysische Alternative zum nicht weniger metaphysischen Weltbild des Naturalismus. Der Idealist glaubt an den Geist, nicht an Geister.
5. Identitaet im Wandel
Handke ist Schriftsteller, kein Philosoph. Das begrenzt die Reflexion ueber ihn, seine Ideen und den systematischen Stellenwert seiner Gegner. Unbeschadet gelegentlicher Selbsterklaerungen, muss sich die Philosophie = oder das Wollen = Handkes im Umgang mit den konkreten Phaenomenen im Werk zeigen. Und hier zeigt sich, dass Handkes Werk seit den spaeten 70er Jahren nicht bloss von einer idealistischen Bewegung erfasst wird, die zugleich einen tiefen Einschnitt in seinem Schaffen markiert, sondern dass dieser Bewegung auch ein eigentuemliches Moment anhaftet. Wenn man den Begriff der =Stimmung= nicht allzu gefuehlig auffasst, dann so scheint mir = ist man berechtigt, von einer besonders geartetenidealistischen Stimmung zu sprechen, die den jungen und den reifen Handke miteinander verbindet.
Handkes Fruehwerk wird bevoelkert von Figuren, deren Bezug zur Welt tiefgreifend gestoert ist. Es dominiert ein Gefuehl der Vereinzelung, der Unfaehigkeit, die Dinge richtig wahrzunehmen, ja, sie ueberhaupt wahrnehmen zu koennen. Die irritierten Helden Handkes sind nicht in der Lage, die Dinge in eine anschaubare und sinnvoll erlebbare Ordnung zu bringen. Im Gewicht der Welt, wo der Autor in der biographischen Ich-Form spricht, wird offenkundig, dass Handkes Figurennot bis in Einzelheiten Handkes eigene Erlebnisstruktur widerspiegelt. Im Eis bilden sich Risse, doch die Risse scheinen durcheinander zu laufen. Unter der Eisdecke pocht eine grosse Sehnsucht, aber das Leben bleibt Lebensgewirr und heillos auf sich selbst zurueckgeworfen. Die Quasiwidmung zum Gewicht der Welt ist das Gegenteil einer Hymne an die Freude: =Fuer den, den's angeht=. Das ist nicht der Bund Schillers, der alle Menschen zu Bruedern werden laesst.
Wie ist dann der uebergang zum hohen Ton der Werke ab 1979 zu erklaeren, der nicht selten ins Enthusiastische ueberschlaegt? =Triumph!=, das Wort grossgeschrieben, steht an einer Stelle der Lehre der Sainte-Victoire:
=Und ich sah das Reich der Woerter mir offen = mit dem Grossen Geist der Form; der Huelle der Geborgenheit; der Zwischenzeit der Unverwundbarkeit; fuer 'die unbestimmte Fortsetzung der Existenz', wie der Philosoph die Dauer definiert hat. An keinen 'Leser' dachte ich da mehr; blickte nur, in wilder Dankbarkeit, zu Boden.=
=Und ich spuerte die Struktur all dieser Dinge in mir, als mein Ruestzeug. TRIUMPH! dachte ich = als sei das Ganze schon gluecklich geschrieben. Und ich lachte.= (Handke 1980, 115 f)
Ist Handke ein anderer geworden? Meine Vermutung lautet: Was immer Handke ploetzlich an klassischen Schoenweltbezuegen einbringt, die Struktur seines Erlebens bleibt dieselbe. Nur dass jetzt dasjenige, was frueher Anlass zu Stoerung und Verstoerung war, nun in einem anderen Licht erscheint.
Aus der Einsamkeit des Beobachters von frueher wird auf einmal die rechte Distanz =die Distanz, derer es bedarf. Das hat zur Folge hat, dass sich der Einsame zu den Dingen in eine troestliche Nachbarschaft gerueckt sieht. Auch die Dinge bleiben einsam, aber nun sieht es so aus, als ob sie in sich ruhten. Und so wird aus dem Ich, das sich frueher beziehungskalt in den anderen spiegelte, seit der Langsamen Heimkehr das =gute Ich= Goethes, das mit der Sprache aus sich heraus- und hinuebertritt zur Welt. Die Ordnung der gelungenen Erzaehlung ist fortan Handkes Ideal, in dem all die genannten Verwandlungen hoechst gestaltete Form annehmen. Es entsteht ein Kosmos.
Doch es bleibt die Frage, ob die Verwandlungen das Wesen des Dichters mitverwandeln oder nur eine Art Charade darstellen. Ist der hohe Ton nicht bloss euphorisierte Misstroestlichkeit? Mir kommt vor, die Antwort darauf muss eher Ja als Nein lauten. Denn oft hoert bei Handke gerade in den Momenten, in denen die Figuren den Sinn ihres Lebens oder des Daseins ueberhaupt zu erfassen scheinen, die Einsamkeit nicht auf, sondern bekommt im Gegenteil eine grosse Tiefe und Selbstverstaendlichkeit =so, als ob die Einsamkeit mit einem Mal ihre eigene definitive Aufhebung waere.
Die, die wie unter Eis gelebt haben, existieren ploetzlich wie Wesen, die in Bernstein eingeschlossen sind: selbstversunken. Das ist Handkes mystisches Nunc stans, der =stehende Augenblick=, da Subjekt und Welt einander umarmen und eins werden, ohne einander zu verschlingen. Am Erzaehlschluss der Stunde der wahren Empfindung (1975) betritt der Held das Pariser Cafe de la Paix und seine Krawatte schwingt im schnellen Gehen hin und her; gegen Ende der Langsamen Heimkehr (1979) bindet sich der Held die Schuhbaender auf der Treppe eines Museums langsam auf und zu; am Schluss der Erzaehlung Die linkshaendige Frau (1981) schaukelt die Heldin in ihrem Schaukelstuhl auf der Terrasse ihrer Apartmentwohnung hin und her, hin und her... Und immer allein. In diesen einsamen Momenten der Beseeltheit und Beseligung steckt noch immer der alte Autismus, doch jetzt derart gestaltet, dass er dem Zustand absoluter Geborgenheit bis zum Verwechseln aehnelt. Und vielleicht ist ja der eine Zustand der andere und umgekehrt, nur eben jeweils komplementaer gesehen. Handke gestaltet existentielle Kippfiguren, in denen Erloesung und Verdammnis einander Schritt fuer Schritt und Wort fuer Wort zu bedingen scheinen. Das macht gerade die charakteristische Spannung der Umbruchswerke aus (vgl. Strasser 1990, 23 ff).
6. Mimetische und projektive Kunst
Dazu passt, dass Handke =wie ich glaube = ganz und gar kein mimetischer, sondern ein projektiver Dichter ist. Ich weiss nicht, ob diese Eigentuemlichkeit schon hinreichend gewuerdigt wurde. Tom Wolfe zum Beispiel ist ein in hohem Masse mimetischer Autor, in geringerem Masse Walker Percy. Beide Autoren zeichnen sich durch die mysterioese physiognomische Faehigkeit aus, andere Personen oder Personfragmente in sich selbst nachzubilden und mit Worten wieder zu erschaffen.
Die groesste Lust des mimetischen Dichters besteht darin zu wissen, wie es ist, eine andere Person zu sein, und seine groesste Befriedigung besteht darin, dieses Wissen schoepferisch im Werk Gestalt annehmen zu lassen. Soziale Panoramen wie Wolfes The Bonfire of the Vanitiesoder A Man in Full, die auf eine ironisch-realistische Weise den Leser in die innere Welt einer Vielzahl von Figuren aus unterschiedlichen sozialen Milieus versetzen, waeren ohne mimetischen Antrieb auf Seiten des Autors undenkbar.
Eine solche Begabung fehlt dem projektiven Dichter mehr oder weniger. Handke besitzt sie fast gar nicht. Der projektive Dichter erschafft in allen Gestalten immer wieder nur sich selbst. Er findet tausend Erscheinungsformen fuer die immer gleiche Grundsituation, die durch seine Gestimmtheit, seine Art zu fuehlen, zu reden, aufzutreten und zu interagieren, gebildet wird. Alle grossen idealistischen Kuenstler sind in diesem Sinne projektiv, das ist ihre Weite und Enge. Sie koennen nicht den kleinsten lebendigen Dialog schreiben, aber sie schreiben ueber das kleinste Insekt so, dass in ihm die ganze Welt = und die ganze Weltverlassenheit, ob erloest oder nicht =aufzuleuchten vermag. Was da im jeweils Erscheinenden aufleuchtet, ist das kosmische Sein des Dichters: Er blueht im Gedicht.
Der mimetische Kuenstler ist, in welcher literarischen Verkleidung auch immer, Realist. Er ist es nicht in dem oben diskutierten, =kritischen= Sinne des Wortes, sondern in dessen urspruenglicher Bedeutung. Er will wissen, wie es ist, ein anderes Wesen zu sein, gleichgueltig, ob eine andere Person oder ein Insekt. Das Interesse des Mimetikers an allen =bedeutenden= Fragen = Sinn des Lebens, Bedeutung des Ganzen, Erloesung =bleibt vernachlaessigenswert gering. Die Fuelle der Welt, die erforscht werden muss, reicht vollkommen aus, um die Neugierde eines Kuenstlerlebens zu stillen.
Auf das Stellen und Herausstellen der bedeutenden Fragen reagiert der mimetische Realist mit Ironie und Abwehr. Denn er empfindet solche Fragen, statt sie als Ergebnis einer besonders profunden Schau des Lebens zu wuerdigen, eher als Ausdruck davon, dass sich hier einer vorm Leben druecken will. Leben heisst Wandel und Verwandlung. Der Mimetiker reinkarniert sich Zeit seines Lebens immer wieder selbst und das ist seine tiefe Lust, die, wie es bei Nietzsche heisst, Ewigkeit will: das ist, jenseits aller bedeutenden Fragen, mehr als genug.
Demgegenueber sieht der projektive Kuenstler im Treiben des Mimetikers ein Balzac-Syndrom am Werk: Verzettelung und Positivismus. Mit Lebenslaeufen, und sei es der eigene, wird nicht viel Federlesens gemacht, soweit sie =bloss= eine Abfolge von aeusserlichkeiten sind und nicht =beseelt=. In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus heisst eine neuere Erzaehlung Handkes. Darin einigt sich der Erzaehler der Geschichte, Handke, mit dem Helden der Geschichte, einem Apotheker namens Loser, alias Handke, kurzerhand darueber, dass zur Biographie des Letzteren nur ganz Weniges mitzuteilen sei. Das wird von Loser, der wie Handke ein selbsternannter Schwellenkundler ist, mit der Bemerkung kommentiert, die in jedem Sinne von Handke stammt: =Gut so! In der Schwebe lassen!= (Handke 1997, 12) Denn das, was sich in der Schwebe befindet, ist gleichsam das, was noch in den projektiven Schaffensprozess miteinbezogen werden kann. Was sich naemlich an Loser bereits soweit an seine persoenliche Geschichte entaeussert haette, dass es, als Entaeussertes, fuer Handkes Gestimmtheit unbrauchbar geworden waere, haette Handkes Erzaehlung nicht bereichert, wie das beim mimetischen Dichter der Fall ist, sondern im Gegenteil von innen her zerstoert.
In jedem Fall gilt: =Alles Handke!= =eine aesthetische Analogie zu Kants =Das 'ich denke' muss alle meine Vorstellungen begleiten koennen=. Waehrend jedoch Kants transzendentales Subjekt, das die Ich-Bezogenheit der Bewusstseinsinhalte sicherstellt, selbst unpersoenlich bleibt, eine leere Form der Synthese, ist das aesthetische Subjekt durch und durch persoenlich. Es hat einen Namen, zum Beispiel Peter Handke. Dieser Umstand wirft die seltsame Frage auf, ob und inwieweit sich der projektive Dichter in seine eigene Idee von Werk und Wirklichkeit einbringen darf, will er sie nicht subjektiv verzerren. Die Idee ist allgemein und ihr Begriff des Realen objektiv, waehrend das projektive Verfahren notwendig Zuege der persoenlichen Gestimmtheit des Dichters traegt, auch seiner Missgestimmtheit, Beschraenktheit und ueberempfindlichkeit.
Noch einmal fuer Thukydides, so betitelt Handke eine Sammlung von Reiseminiaturen (ergaenzte Ausgabe 1995), die ihn weit in die Fremde fuehren, bis hin zum Schneefall in der japanischen Hafenstadt Aomori am 4. Maerz 1988. Unter den Miniaturen findet sich eine mit der ueberschrift Versuch des Exorzismus der einen Geschichte durch eine andere. Die beiden Geschichten beruehren einander am Morgen des 23. Juli 1989, einem Sonntag. Handke hat im Hotel =Terminus= am Bahnhof Lyon-Perrache genaechtigt. Nun gleitet sein Blick ueber das Gleisfeld, wo die Eisenbahner ihrer Arbeit nachgehen, Zuege verkehren, und wo sich immer wieder, fuer ein paar Augenblicke lang, eine grosse sonnige Stille mit Spatzen und Faltern ausbreitet. Ploetzlich kommt dem Betrachter zu Bewusstsein, dass das Hotel =Terminus= im Krieg ein Folterhaus gewesen war. Der Name =Klaus Barbie= faellt und am Ende der kleinen Geschichte wird gesagt: =...die Kinder von Izieu schrien zum Himmel, fast ein halbes Jahrhundert nach ihrem Abtransport, jetzt erst recht.= (Handke 1995, 87) Das ist alles; was der Leser nicht weiss, das weiss er nicht.
Handke gelingt hier eines seiner schoensten literarischen Stuecke. Das hat auch damit zu tun, dass nicht gesagt wird, welche Geschichte welche andere exorziert. Dennoch weiss der Leser, dass etwas an den Spatzen und Faltern rund um diesen sonnig-sonntaeglichen Morgenbahnhof ist, wodurch die Schrecken der Realgeschichte aus dem Bereich des Realen ausgetrieben werden. Es ist die voellige Abwesenheit alles Geschichtlichen in dem, was die Geschichte, die Handke erzaehlt =Handkes Nichtgeschichte = so schoen macht. Das Reale ist das Ideale. Deshalb, so scheint die Geschichte der geschichtslosen Spatzen und Falter zu bedeuten, gelingt dem Boesen der Triumph nicht, real zu werden. Und was ist mit den Kindern von Izieu, von denen der Erzaehler sagt, dass sie zum Himmel schreien, jetzt erst recht?
Dieses =jetzt erst recht= ist, wie die Geschichte nun einmal erzaehlt wird, eine Floskel. Sie fuehrt den Leser nicht an die Opfer heran, jedenfalls nicht so, wie der Leser an die Spatzen und Falter und ihre Art, zeitlos zu sein, herangefuehrt wird. Hier ist eine Grenze erreicht, hier scheiden sich Geister und Welten. ueber gewisse Aspekte der Welt werden wir durch Handkes Werk nicht informiert, weil sie dem Idealismus dieses Werks =seiner Gestimmtheit =nicht assimilierbar sind. Der Gestimmtheit des Werks zufolge fehlt es gewissen Tatbestaenden an darstellbarer Realitaet, mag es sich auch um Tatbestaende handeln, die so real sind, dass sie das Gedicht fuer alle Zeit unmoeglich zu machen scheinen.
Freilich, der Idealist glaubt mit Hoelderlin daran, dass sich das Reale nicht im Tatsachenbericht, sondern einzig im hohen Ton der Poesie offenbart: =Was bleibet aber, stiften die Dichter.=
7. =how to live from one ordinary minute to the next=
Kehren wir abschliessend noch einmal zu Walker Percy zurueck. Wer Percy mit Handke vergleicht, der wird nicht umhin koennen, eine merkwuerdige Mischung aus Naehe und Distanz zu entdecken. Dies ist erwaehnenswert, weil es auf einen wichtigen Unterschied der beiden Autoren hindeutet, wenn es um das Verstaendnis des Satzes =War ist better than Monday morning= geht.
An einer Stelle sagt Barrett ueber einen charismatisch Ungluecklichen, dieser liege wahrscheinlich falsch, wenn er, in Gedanken staendig um die abstrakte Achse =Immanenz-Transzendenz= rotierend, extreme Lagen zum Pruefstein der Existenz erhebe: Gott oder nicht Gott, Keuschheit oder Libertinage, usw. Demgegenueber besteht Barretts Problem darin, =how to live from one ordinary minute to the next on a Wednesday afternoon.= Und Barrett beschliesst seine kleine Variation ueber das Wochentagsthema mit der rhetorischen Frage: =Has not this been the case with all 'religious people'?= (Percy 1999, 355)
Der Versuch, angesichts des Zustandes der Welt seinem Leben einen Sinn zu geben, muss von Tag zu Tag unternommen werden, ja, an einem gewoehnlichen Mittwoch Nachmittag gleichsam von Minute zu Minute. Der Grund allen menschlichen Elends, sagt Pascal im Fragment 139 seiner Penses, ist die Unfaehigkeit des Menschen, =in Ruhe allein in ihrem Zimmer bleiben zu koennen= (Pascal 1978, 77). Percy knuepft daran eine Frage, die er seine Figuren teils expressiv, teils philosophisch stellen und lebensgeschichtlich beantworten laesst: Gibt es hinter aller Zerstreuungssucht nicht doch ein unzerstoerbares Selbst, das keineswegs bloss psychologisch deutbar und gegen die existentielle Langeweile immerfort machtlos ist? Ist es dem Menschen nicht moeglich, innerhalb des Lebens einen Platz zu suchen, an dem er das sein kann, was er ist? Besteht, mit Pascal gedacht, die Suche nach dem Sinn des Lebens nicht gerade darin, so sehr man selbst zu werden, dass man notfalls auch in einem Zimmer allein bleiben und zufrieden sein koennte?
Bis hierher geht die uebereinstimmung zwischen Percy und Handke erstaunlich weit. Doch dann gibt es einen Punkt, in dem ihre =Gestimmtheit= nicht mehr dieselbe ist. Dass sich Percy als reifer Mann zum Katholizismus bekennt, deutet darauf hin, dass er die Loesung seines Problems = und das seiner Figuren =nicht in einem Raum sehen kann, der frei ist von den Tugenden und Routinen alter Traditionen. Man kann nicht man selbst sein, wenn man auf den Ruinen einer zusammengebrochenen Kultur ueber das gute Leben raesoniert. Immer wieder demonstrieren es Percys Helden und Heldinnen: Man kann nicht man selbst sein im Nullkontext jener entwurzelten Freiheit, aus der die moderne Forderung nach Selbstverwirklichung entspringt.
Auf zutiefst zweideutige Weise verkoerpert fuer den Suedstaatler Percy the antebellum South, der =stolze Sueden= der USA, trotz seines Rassismus und anderer angestammter Untugenden, eine solche Tradition. In ihr spielen Tugenden wie Familie, Ehre, Loyalitaet und persoenliche Verantwortlichkeit eine zentrale Rolle. Man mag = wie Percy =die Tradition wegen ihrer Verrottung ablehnen und doch als eine Art Hintergrundstrahlung der eigenen Existenz mit sich fuehren.
Dagegen nun repraesentiert Handke den traditionslosen Autor. Er ist der antikatholisch Gestimmte aus einem katholischen Land, sozialen Verhaeltnissen entstammend, die Halt hoechstens dadurch geben, dass man weiss, wohin man nicht wieder zurueckwill. Kein Wunder, dass ein so schlecht Beerbter sich selbst eine Tradition geben muss. Im Fall Handke bedeutet das etwa = staunenswert genug =: die Tradition der deutschen Klassik mit Goethe als Zentrum und Stifter als Epizentrum, und spaeter dann ein anderer =Sueden=, ein stilisiert muetterliches Land des Schauens und der Geborgenheit, ein Traum-Jugoslawien, wie es nie eines gegeben hat und das, seit dem Ende des Tito-Staates, fuer den Dichter doch verloren ging (vgl. Handke 1991).
Das ist eine Tradition der Ideen und ein daran angehaengter Traum, aber keine Tradition, die ein intuitives Wissen darueber bereitstellen koennte, worin ein gegluecktes Leben besteht oder bestehen sollte =ein Leben im Rahmen von Konventionen, Routinen und Ritualen, die einem helfen, man selbst zu sein. In diesem Sinne ist Handke ein ganz und gar moderner Autor und verhaelt sich doch, als aesthetischer Idealist, zur Gesamtlage der Moderne verquer. Percy hingegen ist weniger anachronistisch =man koennte sagen: er ist realistischer gestimmt als Handke=und dabei doch weniger modern. In seiner Kritik der Moderne hoert man noch immer die Glocken laeuten, zumindest einen Nachhall des alten Gelaeuts.
Verwendete Literatur
Adorno 1970 = Theodor W. Adorno: Negative Dialektik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1970 (Erstausgabe 1966).
Handke 1969a = Peter Handke: Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms. In: Peter Handke: Prosa Gedichte Theaterstuecke Hoerspiele Aufsaetze. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1969, 263-272.
Handke 1969b = Peter Handke: Die Literatur ist romantisch. In: Peter Handke: Prosa Gedichte Theaterstuecke Hoerspiele Aufsaetze. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1969, 273-286.
Handke 1969c = Peter Handke: Die Innenwelt der Aussenwelt der Innenwelt. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1969.
Handke 1979 = Peter Handke: Das Gewicht der Welt. Ein Journal (November 1975 Maerz 1977). Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1979.
Handke 1980 = Peter Handke: Die Lehre der Sainte-Victoire. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1980.
Handke 1981 = Peter Handke: Kindergeschichte. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1981.
Handke 1983 = Peter Handke: Phantasien der Wiederholung, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1983.
Handke 1991 = Peter Handke: Abschied des Traeumers vom Neunten Land. Eine Wirklichkeit, die vergangen ist: Erinnerung an Slowenien. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991.
Handke 1995 = Peter Handke: Noch einmal fuer Thukydides. [Ergaenzte Ausgabe]. Salzburg u. Wien: Residenz 1995.
Handke 1997 = Peter Handke: In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus. Roman. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1997.
Handke 1998 = Peter Handke: Am Felsfenster morgens (und andere Ortszeiten 1982 -1987). Salzburg u. Wien: Residenz 1998.
Mackie 1977 = John L. Mackie: Ethics. Inventing Right and Wrong. Harmondsworth, Middlesex: Penguin 1977.
Pascal 1978 = Blaise Pascal: ueber die Religion und ueber einige andere Gegenstaende (Penses). uebertragen u. hg. v. Ewald Wasmuth. Heidelberg: Lambert Schneider 1978 (8. Aufl.).
Percy 1999 = Walker Percy: The Last Gentleman. New York: Picador 1999 (Erstausgabe 1966).Strasser 1990 = Peter Strasser: Der Freudenstoff. Zu Handke eine Philosophie. Salzburg u. Wien: Residenz 1990
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