Peter Handke: Leben ohne Poesie
Gepostet von Redaktion am Jun 15th, 2010 in Berkéwicz, Ulla, Handke, Peter, Rezensionen| Keine Kommentare
28 DER RAND DER WÖRTER 2
Wir sitzen am Rand des Feldwegs und reden.
Die größte Not ist lange vorbei, denn am Gletscherrand la-
gern die Leichen ab.
Wer steht am Rand des Feldes, am Rand des Highway? −
Cary Grant!
Am Grubenrand liegt, vom Spaten gespalten, ein Engerling.
Der Rand des Schmutzflecks trocknet schon.
Es wird bitter kalt, und dem Captain Scott fängt die Wunde
vom Rand her zu eitern an.
Am Rand der Erschöpfung reden wir alle in Hauptsätzen.
Von den schmutzigen Taschen des Toten haben die Finger-
nägel des Plünderers einen Rand.
Wir sitzen am Rand des Feldwegs, am Rand des Feldes, und
reden, und reden.
Wo der Rand der Wörter sein sollte, fängt trockenes Laub
an den Rändern zu brennen an, und die Wörter krümmen
sich unendlich langsam in sich selber:
„Diese Trauerränder!“
Dieser Rand der Trauer.
Die größte Not ist lange vorbei, denn am Gletscherrand la-
gern die Leichen ab.
Wer steht am Rand des Feldes, am Rand des Highway? −
Cary Grant!
Am Grubenrand liegt, vom Spaten gespalten, ein Engerling.
Der Rand des Schmutzflecks trocknet schon.
Es wird bitter kalt, und dem Captain Scott fängt die Wunde
vom Rand her zu eitern an.
Am Rand der Erschöpfung reden wir alle in Hauptsätzen.
Von den schmutzigen Taschen des Toten haben die Finger-
nägel des Plünderers einen Rand.
Wir sitzen am Rand des Feldwegs, am Rand des Feldes, und
reden, und reden.
Wo der Rand der Wörter sein sollte, fängt trockenes Laub
an den Rändern zu brennen an, und die Wörter krümmen
sich unendlich langsam in sich selber:
„Diese Trauerränder!“
Dieser Rand der Trauer.
… Jetzt stehen in meines Vaters Garten,
die Pilze im Kreis, Pilzherren, Geheime Räte, Kreisflüsterer. Die Nacht ist feucht, es tropft. Heine grüßt Handke, er zieht den Hut bis auf den Vaterboden, bis vor die Pilzfüße zieht er ihn und spricht: „‚Die göttlichen Vettern‘, die Dichter, sind verteidigt durch ihre Verse, auf die auch mit der schrägsten Meinung kein schiefer Reim zu machen ist. Sie werden noch wahr sein und klingen, wenn, nebbich, alle Lümpchen mitsamt den Dichtern und Marien längst im Grabe ruhn.“
Kleiner warmer Pilzatem, Unterhausbeifallgemurmel.
Yeah!
Es swingt, es verst.
Ein paar arme Meinungsseelen stehn vorm Zaun und gaffen, halten Maulaffen feil. Mißgeruch. Stinkmorcheln im Kürbisbeet? Halloween-Eier?
Wind kommt auf, fährt in die Dichter, die Pilze, Handke-Beat. Ein Herbstblatt tanzt vom Vaterbaum, Leuchtfäden wie Blattadern, Lichtverse.
Kleiner warmer Pilzatem, Unterhausbeifallgemurmel.
Yeah!
Es swingt, es verst.
Ein paar arme Meinungsseelen stehn vorm Zaun und gaffen, halten Maulaffen feil. Mißgeruch. Stinkmorcheln im Kürbisbeet? Halloween-Eier?
Wind kommt auf, fährt in die Dichter, die Pilze, Handke-Beat. Ein Herbstblatt tanzt vom Vaterbaum, Leuchtfäden wie Blattadern, Lichtverse.
Ulla Berkéwicz, Aus dem Nachwort
1969 erschien, wie es damals hieß, ein „Reader“
von Peter Handke, der den Untertitel trug: „Prosa Gedichte Theaterstücke Hörspiele Aufsätze“. Die dort abgedruckten Gedichte waren dem im selben Jahr publizierten Band Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt entnommen, in dem der Autor 42 für Lyrik bisher nicht verwendete Textformen entdeckte: etwa Die Aufstellung des 1. FC Nürnberg vom 27.1.1968, den Vorspann zum Film Bonnie und Clyde usw. Und obwohl Peter Handke in den darauffolgenden Jahren als Prosa- und Theaterautor sowie Verfasser von Aufsätzen in den Vordergrund trat, wendete er sich nicht von der Ausdrucksform Gedicht ab. Dies belegen etwa die Langgedichte Leben ohne Poesie oder Blaues Gedicht in dem Band Als das Wünschen noch geholfen hat (1974), das Gedicht an die Dauer (aus dem Jahre 1986) sowie die Haikus in den Notizbüchern, etwa den 2005 veröffentlichtenGestern unterwegs.
Suhrkamp Verlag, Ankündigung, 2007
Auf Dauer kein Verlass
Ihr sollt ihn nicht durch Widerspruch verwirren; sobald er spricht, beginnt er schon zu irren: Peter Handke kehrt in seinen Gedichten zurück ins Haus der Sprache.
Er sei kein Lyriker. Mit dieser Bemerkung hat Peter Handke eine Sammlung seiner Gedichte zunächst abgelehnt, dann aber dem Drängen seiner Verlegerin nachgegeben. Nun also gibt es sie, die gesammelten Gedichte, und der Dichter hat an Auswahl und Gliederung selbst mitgewirkt. „Leben ohne Poesie“ umfasst fast alles, was Handke seit seinem vielbeachteten Bändchen „Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt“ an lyrischen Texten publiziert hat; darunter den Band „Gedicht an die Dauer“ und weitere Lang- und Kurzgedichte, die in diversen Prosabänden und in seinen fünf Notizbüchern erschienen sind. Ist Handke also doch ein Lyriker?
Als Handke in den Sechzigern mit lyrikhaften Texten anfing, waren das grammatikalisch-linguistische Exerzitien, mal streng, mal witzig; es waren Satzspiele, Wörterspiele, Begriffsspiele. Sie waren einfallsreich und wirkten avantgardistisch. Sie führten modellhaft sprachliche Übereinkünfte und Klischees vor, um sie zur Disposition zu stellen. Der junge Österreicher mochte als Erbe von Karl Kraus erscheinen. Er wollte aber keiner von den Epigonen sein, die im alten Haus der Sprache wohnen. Er wollte das alte Haus demontieren. Vielleicht suchte er auch nach einem neuen Haus.
Der früheste Text in „Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt“ stammt von 1965. „Das Wort Zeit“ beginnt: „Die Zeit ist ein Hauptwort. Das Hauptwort bildet keine Zeit. Da die Zeit ein Hauptwort ist, bildet die Zeit keine Zeit.“ Man konnte derlei linguistische Beweisführungen durchaus als zeitfeindlich oder zeitkritisch verstehen; und damals, im Gefolge revolutionärer Stimmungen, hat man Handkes Sprachkritik oft kurzerhand als Gesellschaftskritik genommen. Aber Handke hatte nicht bloß sprachliche, sondern auch Dingklischees im Auge, die Erfahrung verhindern.
Er fand sich „Am Rande der Wörter“ und wollte – anders als die damaligen Experimentellen – nicht in die Wörter zurück, sondern über sie hinaus. Er suchte und fand „Die neuen Erfahrungen“. Sie erscheinen zunächst als gegliederte Rituale, als wollten sie lediglich die Zwänge gesellschaftlichen Verhaltens kenntlich machen; aber dann schlug doch und wie unvermittelt ein existentielles Moment durch: „1948 / an der bayrisch-österreichischen Grenze / im Ort Bayrisch-Gmain (,in welchem Haus mit welcher Nummer?‘) sah ich / auf einem Bettgestell / unter einem Leintuch / hinter Blumen / zum ersten Mal / einen Menschen der tot war.“ Modellsituation oder schon autobiographisches Bekenntnis? Dieser Text von den neuen Erfahrungen steht nicht ohne Grund zu Anfang des Innenwelt-Außenwelt-Bändchens, am Anfang auch des lyrischen Œuvres. Er markiert eine Weggabelung. „Die Literatur ist romantisch“ war der Titel einer kleinen Broschüre, einer Absage an das damals modische Engagement. Der geheimnisvolle Weg – so schien es – würde fortan nach innen gehen.
In den siebziger Jahren schrieb Handke drei lange Gedichte: 1972 „Leben ohne Poesie“, 1973 „Blaues Gedicht“ und 1974 „Die Sinnlosigkeit und das Glück“. Sie stehen nun, in umgekehrter Reihenfolge, am Schluss des Sammelbandes, quasi als Summe des Handkeschen Poetisierungsprogramms von Welt und Leben.
Ich gestehe mein besonderes Faible für das „Blaue Gedicht“, für die wunderbare Übergänglichkeit seiner Motive. Aus einem nächtlichen Überfall von Sexualität wechselt es in die Erfahrung von Bedrohung und Depersonalisierung: „Das Licht / wenn ich blinzelte / hatte eine Farbe aus der Zeit / als ich noch an die Hölle glaubte / und das pfeifende Monster vor dem Fenster / schüttelte lautlos die Handgelenke / als ob es nun Ernst machen wollte.“ Das Gedicht mündet in das Erlebnis eines anderen, südlichen Landes und in die neue Erfahrung von Freundschaft, Liebe, Verbundenheit: „,Schönheit ist eine Art von Information‘ dachte ich / warm von dir / und von der Erinnerung.“ Handke war auf dem Weg seiner langsamen Heimkehr.
Eines der Hauptdokumente dafür, ja, ein klassisches Zeugnis ist sein „Gedicht an die Dauer“. Es hat wunderbar dichte Passagen von Welt- und Erfahrungsgehalt; so die Szene vom Baden mit Freunden im griechischen, weinfarbenen Meer. Doch es will nicht verleugnen, dass es ein Lehrgedicht ist, ein Poem, das ohne Rhetorik nicht auskommt: „Ich habe es, wieder einmal, erfahren: / Die Ekstase ist immer zuviel, / die Dauer dagegen das Richtige.“ Dieser Wahrspruch muss Handke denn doch zu apodiktisch erschienen sein. Er relativiert etwas später: „Auf die Dauer ist kein Verlaß.“ Aber doch auf Handkes artistisches Geschick, sagen wir ruhig, auf seinen Takt.
Die eigentlichen Überraschungen des schönen und schön gemachten Bandes finden sich im Mittelteil „Das Ende des Flanierens“. Was Walter Benjamin vom Flaneur sagt, dass er sein Asyl in der Menge sucht, lässt sich auf den Paris- und Landschaftsflaneur Handke beziehen. Er ist, wie Baudelaire, ein Mann der Schwelle. Hier sammelt und prüft und verlässt er seine Augenblicke.
Manchmal sind es poetische Einfälle, die ein Stück weit ausgeführt werden, ohne den Status des Gedichts zu beanspruchen. Manches ist bloß Notiz, aber keines ganz belanglos. „Am Nachmittag fielen ein paar Blätter / von den Akazien / Und am Abend schwankte die Lampe / im leeren Eßzimmer.“ Hat man das gelesen, empfindet man den Titel „Tageslauf in einem Sommergarten“ fast als entbehrlich. Anderes ist in seiner Knappheit fast makellos. So ein Dreizeiler in den regelgerechten siebzehn Silben des Haiku: „In der Stille: am Platz / In der Stille: die Ankunft / Schatzhaus der Stille.“ Nur ein Beckmesser wünschte sich die Doppelpunkte getilgt. Er verkennte, dass auch im meditativen Moment ein Element der Lehre enthalten ist.
Handkes langsame Heimkehr hat ihn in das alte Schatzhaus der Sprache zurückgeführt. Sein langer Rückzug aus der Avantgarde und ihrer hybriden Fortschrittsdoktrin hat nichts mit Epigonie zu schaffen. Die Frage, ob er ein Lyriker ist, hat er damit auf ihre immanente Spitzfindigkeit zurückgeführt. Außerdem hat er sie selbst auf die schönste Weise beantwortet, im Gedicht: „Der Lyriker sitzt schön im Haus / der lyrische Epiker geht über die Hügel / der epische Epiker wird auf die Schiffe verschlagen.“ Also was tut Handke? Er lässt seinen Lesern die Wahl, mit welcher der drei Figuren sie ihn identifizieren wollen. Ich würde mich für den lyrischen Epiker entscheiden, der über die Hügel geht. Aber wahrscheinlich ist das nur ein Drittel der Wahrheit.
Harald Hartung, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.1.2008
Er sei kein Lyriker. Mit dieser Bemerkung hat Peter Handke eine Sammlung seiner Gedichte zunächst abgelehnt, dann aber dem Drängen seiner Verlegerin nachgegeben. Nun also gibt es sie, die gesammelten Gedichte, und der Dichter hat an Auswahl und Gliederung selbst mitgewirkt. „Leben ohne Poesie“ umfasst fast alles, was Handke seit seinem vielbeachteten Bändchen „Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt“ an lyrischen Texten publiziert hat; darunter den Band „Gedicht an die Dauer“ und weitere Lang- und Kurzgedichte, die in diversen Prosabänden und in seinen fünf Notizbüchern erschienen sind. Ist Handke also doch ein Lyriker?
Als Handke in den Sechzigern mit lyrikhaften Texten anfing, waren das grammatikalisch-linguistische Exerzitien, mal streng, mal witzig; es waren Satzspiele, Wörterspiele, Begriffsspiele. Sie waren einfallsreich und wirkten avantgardistisch. Sie führten modellhaft sprachliche Übereinkünfte und Klischees vor, um sie zur Disposition zu stellen. Der junge Österreicher mochte als Erbe von Karl Kraus erscheinen. Er wollte aber keiner von den Epigonen sein, die im alten Haus der Sprache wohnen. Er wollte das alte Haus demontieren. Vielleicht suchte er auch nach einem neuen Haus.
Der früheste Text in „Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt“ stammt von 1965. „Das Wort Zeit“ beginnt: „Die Zeit ist ein Hauptwort. Das Hauptwort bildet keine Zeit. Da die Zeit ein Hauptwort ist, bildet die Zeit keine Zeit.“ Man konnte derlei linguistische Beweisführungen durchaus als zeitfeindlich oder zeitkritisch verstehen; und damals, im Gefolge revolutionärer Stimmungen, hat man Handkes Sprachkritik oft kurzerhand als Gesellschaftskritik genommen. Aber Handke hatte nicht bloß sprachliche, sondern auch Dingklischees im Auge, die Erfahrung verhindern.
Er fand sich „Am Rande der Wörter“ und wollte – anders als die damaligen Experimentellen – nicht in die Wörter zurück, sondern über sie hinaus. Er suchte und fand „Die neuen Erfahrungen“. Sie erscheinen zunächst als gegliederte Rituale, als wollten sie lediglich die Zwänge gesellschaftlichen Verhaltens kenntlich machen; aber dann schlug doch und wie unvermittelt ein existentielles Moment durch: „1948 / an der bayrisch-österreichischen Grenze / im Ort Bayrisch-Gmain (,in welchem Haus mit welcher Nummer?‘) sah ich / auf einem Bettgestell / unter einem Leintuch / hinter Blumen / zum ersten Mal / einen Menschen der tot war.“ Modellsituation oder schon autobiographisches Bekenntnis? Dieser Text von den neuen Erfahrungen steht nicht ohne Grund zu Anfang des Innenwelt-Außenwelt-Bändchens, am Anfang auch des lyrischen Œuvres. Er markiert eine Weggabelung. „Die Literatur ist romantisch“ war der Titel einer kleinen Broschüre, einer Absage an das damals modische Engagement. Der geheimnisvolle Weg – so schien es – würde fortan nach innen gehen.
In den siebziger Jahren schrieb Handke drei lange Gedichte: 1972 „Leben ohne Poesie“, 1973 „Blaues Gedicht“ und 1974 „Die Sinnlosigkeit und das Glück“. Sie stehen nun, in umgekehrter Reihenfolge, am Schluss des Sammelbandes, quasi als Summe des Handkeschen Poetisierungsprogramms von Welt und Leben.
Ich gestehe mein besonderes Faible für das „Blaue Gedicht“, für die wunderbare Übergänglichkeit seiner Motive. Aus einem nächtlichen Überfall von Sexualität wechselt es in die Erfahrung von Bedrohung und Depersonalisierung: „Das Licht / wenn ich blinzelte / hatte eine Farbe aus der Zeit / als ich noch an die Hölle glaubte / und das pfeifende Monster vor dem Fenster / schüttelte lautlos die Handgelenke / als ob es nun Ernst machen wollte.“ Das Gedicht mündet in das Erlebnis eines anderen, südlichen Landes und in die neue Erfahrung von Freundschaft, Liebe, Verbundenheit: „,Schönheit ist eine Art von Information‘ dachte ich / warm von dir / und von der Erinnerung.“ Handke war auf dem Weg seiner langsamen Heimkehr.
Eines der Hauptdokumente dafür, ja, ein klassisches Zeugnis ist sein „Gedicht an die Dauer“. Es hat wunderbar dichte Passagen von Welt- und Erfahrungsgehalt; so die Szene vom Baden mit Freunden im griechischen, weinfarbenen Meer. Doch es will nicht verleugnen, dass es ein Lehrgedicht ist, ein Poem, das ohne Rhetorik nicht auskommt: „Ich habe es, wieder einmal, erfahren: / Die Ekstase ist immer zuviel, / die Dauer dagegen das Richtige.“ Dieser Wahrspruch muss Handke denn doch zu apodiktisch erschienen sein. Er relativiert etwas später: „Auf die Dauer ist kein Verlaß.“ Aber doch auf Handkes artistisches Geschick, sagen wir ruhig, auf seinen Takt.
Die eigentlichen Überraschungen des schönen und schön gemachten Bandes finden sich im Mittelteil „Das Ende des Flanierens“. Was Walter Benjamin vom Flaneur sagt, dass er sein Asyl in der Menge sucht, lässt sich auf den Paris- und Landschaftsflaneur Handke beziehen. Er ist, wie Baudelaire, ein Mann der Schwelle. Hier sammelt und prüft und verlässt er seine Augenblicke.
Manchmal sind es poetische Einfälle, die ein Stück weit ausgeführt werden, ohne den Status des Gedichts zu beanspruchen. Manches ist bloß Notiz, aber keines ganz belanglos. „Am Nachmittag fielen ein paar Blätter / von den Akazien / Und am Abend schwankte die Lampe / im leeren Eßzimmer.“ Hat man das gelesen, empfindet man den Titel „Tageslauf in einem Sommergarten“ fast als entbehrlich. Anderes ist in seiner Knappheit fast makellos. So ein Dreizeiler in den regelgerechten siebzehn Silben des Haiku: „In der Stille: am Platz / In der Stille: die Ankunft / Schatzhaus der Stille.“ Nur ein Beckmesser wünschte sich die Doppelpunkte getilgt. Er verkennte, dass auch im meditativen Moment ein Element der Lehre enthalten ist.
Handkes langsame Heimkehr hat ihn in das alte Schatzhaus der Sprache zurückgeführt. Sein langer Rückzug aus der Avantgarde und ihrer hybriden Fortschrittsdoktrin hat nichts mit Epigonie zu schaffen. Die Frage, ob er ein Lyriker ist, hat er damit auf ihre immanente Spitzfindigkeit zurückgeführt. Außerdem hat er sie selbst auf die schönste Weise beantwortet, im Gedicht: „Der Lyriker sitzt schön im Haus / der lyrische Epiker geht über die Hügel / der epische Epiker wird auf die Schiffe verschlagen.“ Also was tut Handke? Er lässt seinen Lesern die Wahl, mit welcher der drei Figuren sie ihn identifizieren wollen. Ich würde mich für den lyrischen Epiker entscheiden, der über die Hügel geht. Aber wahrscheinlich ist das nur ein Drittel der Wahrheit.
Innenwelt und Außenwelt
– Er sei kein Lyriker, sagt er. Die dennoch entstandenen Verse nennt er selbst „Gelegenheitsgedichte“. Tatsächlich ist seine lyrische Produktion im Vergleich zum umfangreichen Prosawerk und den dramatischen Arbeiten überschaubar; und auch daher nur selten im Blickfeld literarischer Kritik und germanistischer Untersuchungen. Der Autor sieht sich als Erzähler. Eigentlich seltsam, wo doch viele seiner Buchtitel poetischer klingen als manche Gedichtzeile: Ob „Wunschloses Unglück“ oder „Das Jahr in der Niemandsbucht“, „Das Gewicht der Welt“ oder „Der kurze Brief zum langen Abschied“. –
Die Poetisierung der Welt wird von Peter Handke sogar zum Programm erhoben. Denn Handke ist „überzeugt von der begriffsauflösenden und damit zukunftsmächtigen Kraft des poetischen Denkens“, so der Autor in seiner Büchner-Preis-Rede. Poetisch klingt auch seine Erzählsprache. Wenn man Prosa ernst nähme, erklärt er in einem Gespräch mit Herbert Gamper, sei sie „genau so schwierig und genau so ein Prozess wie das Gedichteschreiben.“ Viele Textpassagen lesen sich deshalb fast wie Gedichte ohne Zeilenfall. In seiner Lyrik wiederum finden sich oft seitenlange sogenannte Erzähl- oder Prosagedichte. Diese, so scheint es manchmal, sind gerade da am besten, wo sie der Prosa am nächsten kommen. Eins ist jedoch klar: Handkes Lyrik ist notwendig im Kontext seiner Prosa und Theaterstücke zu lesen. Die Gedichte Peter Handkes sind jetzt neu erschienen.Leben ohne Poesie heißt der Band.
Er enthält in angegebener Reihenfolge: Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt von 1969, die Gedichte aus Das Ende des Flanierens von 1977, durchmischt mit den Versen der fünf Notizbücher aus einem Zeitraum von 1977 bis 2005, das Gedicht an die Dauer von 1986 und die drei Langgedichte aus dem 1974 erschienenen Band Als das Wünschen noch geholfen hat. Die Anordnung der vier Teile entspricht nicht der Chronologie der Erscheinungsdaten. Auffällig ist vor allem die Schlussstellung der Gedichte aus Als das Wünschen noch geholfen hat. Die drei in veränderter Reihenfolge abgedruckten programmatischen Gedichte unter der Überschrift Leben ohne Poesie markieren einen Wendepunkt in Handkes Leben und Werk.
Gerade siebenundzwanzig Jahre ist Peter Handke, als 1969 sein erster LyrikbandDie Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt erscheint. Dieser überrascht mit nach konventionellem Verständnis sehr unpoetischen Texten wie dem legendären Gedicht Die Aufstellung des 1. FC Nürnberg vom 27.1.1968 oder der Zugauskunft; hier ein Ausschnitt des damals noch unveröffentlichten Textes vom Autor selbst gelesen:
Er enthält in angegebener Reihenfolge: Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt von 1969, die Gedichte aus Das Ende des Flanierens von 1977, durchmischt mit den Versen der fünf Notizbücher aus einem Zeitraum von 1977 bis 2005, das Gedicht an die Dauer von 1986 und die drei Langgedichte aus dem 1974 erschienenen Band Als das Wünschen noch geholfen hat. Die Anordnung der vier Teile entspricht nicht der Chronologie der Erscheinungsdaten. Auffällig ist vor allem die Schlussstellung der Gedichte aus Als das Wünschen noch geholfen hat. Die drei in veränderter Reihenfolge abgedruckten programmatischen Gedichte unter der Überschrift Leben ohne Poesie markieren einen Wendepunkt in Handkes Leben und Werk.
Gerade siebenundzwanzig Jahre ist Peter Handke, als 1969 sein erster LyrikbandDie Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt erscheint. Dieser überrascht mit nach konventionellem Verständnis sehr unpoetischen Texten wie dem legendären Gedicht Die Aufstellung des 1. FC Nürnberg vom 27.1.1968 oder der Zugauskunft; hier ein Ausschnitt des damals noch unveröffentlichten Textes vom Autor selbst gelesen:
ZUGAUSKUNFT
„Ich möchte nach Stock.“
Sie fahren mit dem Fernschnellzug um 6 Uhr 2.
Der Zug ist in Alst um 8 Uhr 51.
Sie steigen um in den Schnellzug nach Teist.
Der Zug fährt von Alst ab um 9 Uhr 17.
Sie fahren nicht bis nach Teist, sondern steigen aus in Benz.
Der Zug ist in Benz um 10 Uhr 33.
(…)
Sie fahren mit dem Fernschnellzug um 6 Uhr 2.
Der Zug ist in Alst um 8 Uhr 51.
Sie steigen um in den Schnellzug nach Teist.
Der Zug fährt von Alst ab um 9 Uhr 17.
Sie fahren nicht bis nach Teist, sondern steigen aus in Benz.
Der Zug ist in Benz um 10 Uhr 33.
(…)
Neben den in der Tradition des object trouvé stehenden enthält der Band überwiegend Texte in der Nachfolge der Sprechstücke und des ein Jahr zuvor erschienenen Kaspar. Dort, so Handke in seinem poetologischen Aufsatz „Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms“, werde kein Bild mehr von der Wirklichkeit gegeben, werde die Wirklichkeit nicht mehr gespielt und vorgespiegelt, sondern mit Wörtern und Sätzen der Wirklichkeit gespielt. Ein Beispiel: Peter Handke selbst liest aus seinem Gedicht Die Reizwörter
(…)
die Wörter
die das Verbrechen betreffen
sind Reizwörter für den Schuldigen
sind Schuldwörter
(…)
das Reizwort des Streifenbeamten ist
QUERSCHLÄGER
(…)
das Reizwort des Mörders ist
LUFTZUG
mein Reizwort ist
jedes Wort
jedes Wort
ist ein Reizwort:
die Wörter
die das Verbrechen betreffen
sind Reizwörter für den Schuldigen
sind Schuldwörter
(…)
das Reizwort des Streifenbeamten ist
QUERSCHLÄGER
(…)
das Reizwort des Mörders ist
LUFTZUG
mein Reizwort ist
jedes Wort
jedes Wort
ist ein Reizwort:
URABSTIMMUNG
ROTKÄPPCHEN
MEHRZWECKTISCH
RESTPOSTEN
FLUCHTWEG
GÄNSEKLEIN
FREIWILLIG
NIEMANDSLAND
WÜHLMAUS
LAVA
ÄTZEN
WENN
WO NOVARA
ROTKÄPPCHEN
MEHRZWECKTISCH
RESTPOSTEN
FLUCHTWEG
GÄNSEKLEIN
FREIWILLIG
NIEMANDSLAND
WÜHLMAUS
LAVA
ÄTZEN
WENN
WO NOVARA
In Gedichten wie Steigerungen, Verwechslungen, Die Einzahl und die Mehrzahloder Unterscheidungen demonstriert Handke mit und an der Sprache, wie grammatikalische Schemata unser Sehen und Denken, Wahrnehmung und Bewusstsein prägen. Häufig geht er in seinen Sprachspielen von Gemeinplätzen aus, wiederholt sie, stellt die Worte und Satzmodelle so lange um, bis sich die Begriffe und ihre konventionellen Bedeutungen für den Moment des Gedichtes auflösen. Wie hier in seinem von ihm selbst gelesenen Gedicht Die Wortfamilie:
(…)
ein Kreis von /
Gleichgesinnten; ein Schwarm von /
Heuschrecken;
eine Kolonie von /
Blattläusen;
eine Flucht von /
Zimmern;
ein Rattenschwanz von /
Beschwerden;
eine Masse von /
Fußballtoten:
ein Kreis von /
Gleichgesinnten; ein Schwarm von /
Heuschrecken;
eine Kolonie von /
Blattläusen;
eine Flucht von /
Zimmern;
ein Rattenschwanz von /
Beschwerden;
eine Masse von /
Fußballtoten:
eine Runde von /
Bankräubern
läßt einen Schwarm von /
Butterbrotpapier
vor dem Tresor zurück;
(…)
eine Rotte von /
Papiersäcken
platzt;
ein Kreis von /
Eingekreisten
ergibt sich;
ein Schock von /
feuchtem Schnee
klatscht nieder auf die Rudel /
der Lebenden
und die Horden /
der Toten
(…)
Bankräubern
läßt einen Schwarm von /
Butterbrotpapier
vor dem Tresor zurück;
(…)
eine Rotte von /
Papiersäcken
platzt;
ein Kreis von /
Eingekreisten
ergibt sich;
ein Schock von /
feuchtem Schnee
klatscht nieder auf die Rudel /
der Lebenden
und die Horden /
der Toten
(…)
Falsch wäre es, Handkes Gedichte auf Sprachkritik zu reduzieren. Mit seinen Texten wendet er sich grundsätzlich gegen jede individualitätsbedrohende Fixierung. Es gehe ihm aber nicht allein darum, Klischees zu entlarven, so der Autor im Aufsatz „Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms“, „sondern mit Hilfe der Klischees von Wirklichkeit zu neuen Ergebnissen über die (meine) Wahrheit zu kommen.“ Handkes literarische Aufmerksamkeit geht gleichzeitig in zwei Richtungen: Sie gilt der Innenwelt und Außenwelt. Der Weg zu einem neuen Bewusstsein führt nur über die Dinge und Vorgänge außerhalb. Das Titelgedicht „Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt“ zeigt das exemplarisch. Peter Handke liest selbst:
(…)
Wir betreten unser Bewusstsein:
wie in einem Märchen ist es dort früher Morgen
auf einer Wiese im Frühsommer:
wenn wir neugierig sind;
(…)
Jemand sieht so viele gleichgültige Gegenstände
und verliert sich nach und nach aus dem Bewußstein −
dann sieht er einen Gegenstand
den er nicht sehen will
oder den er gern länger sehen möchte
oder den er gern erwerben möchte
so daß der Gegenstand ein Gegenstand
seiner Schaulust
seines Willens
seines Unwillens wird
und er ihn anschaut
oder ihn abwehrt
oder ihn haben will:
so kommt er wieder zu Bewußstsein
so kommen wir wieder zu Bewusstsein
Wir betreten unser Bewusstsein:
wie in einem Märchen ist es dort früher Morgen
auf einer Wiese im Frühsommer:
wenn wir neugierig sind;
(…)
Jemand sieht so viele gleichgültige Gegenstände
und verliert sich nach und nach aus dem Bewußstein −
dann sieht er einen Gegenstand
den er nicht sehen will
oder den er gern länger sehen möchte
oder den er gern erwerben möchte
so daß der Gegenstand ein Gegenstand
seiner Schaulust
seines Willens
seines Unwillens wird
und er ihn anschaut
oder ihn abwehrt
oder ihn haben will:
so kommt er wieder zu Bewußstsein
so kommen wir wieder zu Bewusstsein
„Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt“ ist in mehrfacher Hinsicht programmatisch. Der Titel kann als Formel zum Werkverständnis Peter Handkes gelesen werden. Drei Lesarten können als Schlüssel für Handkes literarische Verfahren und poetologisches Programm dienen. Zum einen: Im Wechsel von innen und außen geht es in erster Linie um einen Wahrnehmungsprozess. Entscheidend dabei ist der Blickwechsel. Jene spezifische Doppel-Perspektive, die gleichzeitig sowohl auf die Welt als auch auf das Ich, auf das Subjektive und das Objektive, das Konkrete und das Abstrakte ausgerichtet ist. Ziel ist die von selbstreflexiver Erkenntnis ausgehende Erkundung von intersubjektiv gültigen Sinnzusammenhängen.
Die zweite Lesart: Die Formulierung „Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt“ bezieht immer den Widerspruch mit ein. Die These fordert die Antithese und das Setzen den Gegensatz. Sowie beim Schreiben auch nur der Ansatz eines Begriffs auftauche, so der Autor in seiner Büchner-Preis-Rede, „weiche ich – wenn ich noch kann – aus in eine andere Richtung, in eine andere Landschaft, in der es noch keine Erleichterungen und Totalitätsansprüche durch Begriffe gibt.“ Die dritte Verständnisebene: Die Formel von der „Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt“ postuliert eine Art erkenntnistheoretischen Dreisprung: Es handelt sich um eine Bewegung, welche zwingend eine Gegenbewegung fordert und so fort. Das heißt, bei Handkes literarischen Verfahren handelt es sich um einen nie endenden Prozess. Nicht zufällig tauchen in Handkes poetischer Terminologie immer wieder Schlüsselwörter der Bewegung wie gehen, fließen oder mäandern auf. Was zählt, sind vor allem jene vom Autor immer wieder beschworenen Schwellenzustände zwischen zwei Bewegungen. Aber ich lebe nur von den Zwischenräumen heißt ein wichtiges Buch mit Gesprächen Herbert Gampers mit dem Autor. Ein entscheidender biografischer Umbruchsprozess findet für Handke im Zeitraum zwischen 1972 und 1974 statt. Dieser schlägt sich in einer radikalen Wende im Werk nieder. Der Autor wohnt mit seiner jungen Familie in einer Neubausiedlung in Kronberg bei Frankfurt. Dort schreibt er über Monate nichts als das Prosagedicht Leben ohne Poesie. Für Handke ist es ein lähmender Moment des Stillstands, der Schreibkrise, des drohenden Sprachverlusts. 1973 zieht er nach Paris und findet dort mit der 1975 erscheinenden Erzählung Die Stunde der wahren Empfindung seine literarische Stimme wieder. Übersehene Alltagsdinge werden dort zu verrätselten Zeichen für eine wieder als sinnvoll erlebte und beschreibbar gewordene Welt. Das Buch Als das Wünschen noch geholfen haterscheint ein Jahr zuvor. Die darin enthaltenen Gedichte spiegeln die existenzielle Schwellenerfahrung wider. Im gleichnamigen ersten, noch in Kronberg entstandenen Gedicht beklagt der Autor ein als sinnlos empfundenes…
LEBEN OHNE POESIE
In diesem Herbst ist die Zeit fast ohne mich
vergangen
(…) In den Zeitungen stand alles schon schwarz auf weiß
und jede Erscheinung erschien von vorneherein als ein Begriff
(…)
Söldner hatten sich in die Sprache verirrt und
hielten jedes Wort besetzt
erpreßten sich untereinander
indem sie die Begriffe als Losungsworte
gebrauchten
und ich wurde immer sprachloser
Ich
(…)
wollte (…) aufhören
schon bevor ich zu schreiben anfing
Dann mit der Schamlosigkeit
des Sich-Ausdrückens
ist das Vorausgedachte von Wort zu Wort
gegenstandsloser geworden
und wirklich mit einem Schlag
wußte ich wieder was ich wollte
und bekam eine Lust auf die Welt
(…)
Ich schrieb richtig MIT
sagte lange Verschwiegenes
und dachte dann wörtlich
„So jetzt kann das Leben wieder weitergehen“
(…)
Wie stolz bin ich auf das Schreiben gewesen!
vergangen
(…) In den Zeitungen stand alles schon schwarz auf weiß
und jede Erscheinung erschien von vorneherein als ein Begriff
(…)
Söldner hatten sich in die Sprache verirrt und
hielten jedes Wort besetzt
erpreßten sich untereinander
indem sie die Begriffe als Losungsworte
gebrauchten
und ich wurde immer sprachloser
Ich
(…)
wollte (…) aufhören
schon bevor ich zu schreiben anfing
Dann mit der Schamlosigkeit
des Sich-Ausdrückens
ist das Vorausgedachte von Wort zu Wort
gegenstandsloser geworden
und wirklich mit einem Schlag
wußte ich wieder was ich wollte
und bekam eine Lust auf die Welt
(…)
Ich schrieb richtig MIT
sagte lange Verschwiegenes
und dachte dann wörtlich
„So jetzt kann das Leben wieder weitergehen“
(…)
Wie stolz bin ich auf das Schreiben gewesen!
In einem Gespräch mit Heinz Ludwig Arnold 1975 in Paris bestätigt Handke, daß die Stunde der wahren Empfindung die Erzählung zu den Gedichten sei. Handke überschreitet hier deutlich den Bereich der sprach- und erkenntniskritischen Systemattacken der Sprechstücke und erweitert die thematisierten Probleme der Wahrnehmung und Kommunikation um die der Existenz. Sein neues Hauptanliegen: Wie kann man das Glück darstellbar machen? Auch die Entwicklung im zweiten Gedicht des Bandes Das blaue Gedicht lässt sehr viel Ähnlichkeit mit der Bewusstseinsbewegung in der Stunde der wahren Empfindungerkennen:
Tief in der Nacht
(…)
fing ich bei Bewußtsein
zu klumpen an
(…)
Vor Bedrückung
gab es plötzlich keine Erinnerung mehr
keinen Zukunftsgedanken
Ich lag langausgestreckt in meiner Angst
(…)
analphabetisch vor der Entsetzlichkeit außer mir –
(…)
Und dann auf einmal
(…)
buchstabierend vor Todesangst
(…)
ordneten sich die unbeschreiblichen Einzelheiten
der finsteren Neuzeit
zu ihrem verlorenen Zusammenhang
(…)
der Sinn ist wieder da!
(…)
und jedes für sich Einzelne
verschränkte sich ineinander:
die Blätter vor dem Fenster
das sich wach singende Kind
ein Fachwerkhaus in der Dämmerung
das helle Blau an den Bildstöcken
aus der Zeit
als man noch an die Ewigkeit glaubte
(…)
Zu existieren
Fing an Mir etwas zu bedeuten −
(…)
(…)
fing ich bei Bewußtsein
zu klumpen an
(…)
Vor Bedrückung
gab es plötzlich keine Erinnerung mehr
keinen Zukunftsgedanken
Ich lag langausgestreckt in meiner Angst
(…)
analphabetisch vor der Entsetzlichkeit außer mir –
(…)
Und dann auf einmal
(…)
buchstabierend vor Todesangst
(…)
ordneten sich die unbeschreiblichen Einzelheiten
der finsteren Neuzeit
zu ihrem verlorenen Zusammenhang
(…)
der Sinn ist wieder da!
(…)
und jedes für sich Einzelne
verschränkte sich ineinander:
die Blätter vor dem Fenster
das sich wach singende Kind
ein Fachwerkhaus in der Dämmerung
das helle Blau an den Bildstöcken
aus der Zeit
als man noch an die Ewigkeit glaubte
(…)
Zu existieren
Fing an Mir etwas zu bedeuten −
(…)
Ebenso plötzlich und unerwartet, wie er sich einstellt, kann der neu gewonnene Sinn, „das zwei-einige poetische Weltgefühl (…) zwischen zwei Schritten“, wie es im abschließenden Gedicht Die Sinnlosigkeit und das Glück heißt, aber auch wieder verloren gehen.“ Alles wird zu einem einzigen „Windbruch“, zum „Durcheinander. Und alles ausdruckslos.“ So lange, bis in einem unerwarteten Moment etwas Neues im Blickfeld erscheint, das Gefühl zurückkehrt und der unbeschreibliche Tag wieder beschreibbar wird. Täglich neu muss sich das lyrische Subjekt in der fundamentalen Spannung zwischen Heil und Hoffnungslosigkeit, Verdammung und Verklärung behaupten.
Dieser dauernde Wechsel von Verzweiflung und Zuversicht, ernüchternder Realität und emphatischer Utopie bleibt das hervorstechende Charaktermerkmal von Handkes mäanderndem Schreiben – auch in den 1977 zum ersten Mal in einem Lyrikband erscheinenden Gedichten unter dem Titel Das Ende des Flanierens. Das Glück kennt keine Dauer, immer wieder bricht der neu gewonnene Zusammenhang zu bedrohlichen Einzelheiten auseinander; wie hier im Gedicht Die Verlassenheit:
DAS ENDE DES FLANIERENS
Ruckhaft stand ich auf
(…)
und die Dinge lagen zur Hand
wie ausgerissene Pflastersteine
(…)
Es gab bis über die Höhe der Augen
Keine Außenwelt mehr
(…)
und die Dinge lagen zur Hand
wie ausgerissene Pflastersteine
(…)
Es gab bis über die Höhe der Augen
Keine Außenwelt mehr
Im neu herausgegebenen Sammelband Leben ohne Poesie sind die Gedichte vomEnde des Flanierens „gemixt“, so der Ausdruck Peter Handkes, mit Versen aus den 1977 – 2005 erschienenen Notizbüchern und Journalen. In dieser Zeit entsteht zwischen 1979 bis 1981 auch Handkes Tetralogie, wo er in Alaska, auf dem Mont Saint Victoire oder in der Beschreibung des Kindes die Momente poetischer Zusammenschau festzuhalten versucht. Jene Augenblicke, in denen, so Handke in „Das Gewicht der Welt“, Erinnerung und Sehnsucht, Denken und Fühlen, Körper und Seele, Einzelmensch und Gesellschaft zu einem Gefühl zusammenwirken. Wie hier im Gedicht Das Ende des Flanierens, wo
(…)
Lebensaugenblicke springen wie Katzen
zwischen den Gräbern der großen Friedhöfe
Die trockenen Ahornsamenbüschel sirren
und die Wolken ziehen am Himmel
(…)
Zufrieden mit einer Arbeit ging ich ins Café
(…)
Pilger mit den schmerzblinden Augen
Bevor du einschlägig bekanntgemacht bist
von den uferwechselnden Flaneuren:
Gesammelt an der Schreibmaschine
halte ich deine offiziell nicht bestätigte
Zwischenzeit fest
Unterschütterlich stehen meine Worte da
für dich
ohne mich
Lebensaugenblicke springen wie Katzen
zwischen den Gräbern der großen Friedhöfe
Die trockenen Ahornsamenbüschel sirren
und die Wolken ziehen am Himmel
(…)
Zufrieden mit einer Arbeit ging ich ins Café
(…)
Pilger mit den schmerzblinden Augen
Bevor du einschlägig bekanntgemacht bist
von den uferwechselnden Flaneuren:
Gesammelt an der Schreibmaschine
halte ich deine offiziell nicht bestätigte
Zwischenzeit fest
Unterschütterlich stehen meine Worte da
für dich
ohne mich
Auch im 1986 erschienenen Langedicht und vierten Teil des Bandes, dem Gedicht an die Dauer, geht Handkes literarische Suche nach einem intersubjektiv gültigen Moment weiter. Er ist auf Gegenstände, Situationen und Verhaltensweisen aus, so der Germanist Peter Pütz, deren komponiertes Zeichenensemble jeweils zum Suchbild für noch nicht besetztes und tief bedrohtes Dasein wird. In dem fünfundfünzig Seiten langen poetischen Text sucht er jene immer wieder von Handke beschriebenen Schlüssel-Orte auf, wo er dem Glück für eine kurze Weile Dauer verleihen konnte. Da ist zum Beispiel der Griffener See:
GEDICHT AN DIE DAUER
(…)
In der Kindheit begleitete ich den Großvater dorthin zum Futterschneiden.
(…)
Wir stießen vom Ufer ab in einem fast viereckigen Nachen,
(…)
und stakten durch dichtes Schilf hinaus zu der Stelle,
(…) wo die grünlichen saftigen Wasserpflanzen standen,
Im Augenblick liegt ein Halm, längst vertrocknet,
neben mir auf dem Schreibtisch,
(…) es knistert in meinen Händen,
(…) und ich höre wieder die Frühregentropfen von damals
in unseren Nachen fallen.
(…)
In der Kindheit begleitete ich den Großvater dorthin zum Futterschneiden.
(…)
Wir stießen vom Ufer ab in einem fast viereckigen Nachen,
(…)
und stakten durch dichtes Schilf hinaus zu der Stelle,
(…) wo die grünlichen saftigen Wasserpflanzen standen,
Im Augenblick liegt ein Halm, längst vertrocknet,
neben mir auf dem Schreibtisch,
(…) es knistert in meinen Händen,
(…) und ich höre wieder die Frühregentropfen von damals
in unseren Nachen fallen.
(…)
Und weiter:
(…)
Ja, diese Sache, der mit den Jahren die Dauer entspringt,
sie ist wesentlich unscheinbar,
der Rede nicht wert,
wohl aber es Festhaltens durchs Schreiben:
Denn sie muß meine Hauptsache sein.
Ja, diese Sache, der mit den Jahren die Dauer entspringt,
sie ist wesentlich unscheinbar,
der Rede nicht wert,
wohl aber es Festhaltens durchs Schreiben:
Denn sie muß meine Hauptsache sein.
Den Abschluss des Gedichtbandes Leben ohne Poesie bildet aber nicht das 1986 veröffentlichte Gedicht an die Dauer und auch nicht die im Zeitraum von 1977 bis 2005 erschienenen Verse aus Das Ende des Flanierens und den Journalen. Der vierte und letzte Teil des Buchs besteht aus den drei schon 1974 in Als das Wünschen noch geholfen hat veröffentlichten Langgedichten aus der Zeit des Umbruchs und des Umzugs von Kronberg nach Paris. Diese sind zudem nicht in ihrer ursprünglichen Reihenfolge angeordnet. Das zeitlich zuerst, noch in Deutschland entstandene Gedicht Leben ohne Poesie steht hier am Schluss. Leben ohne Poesie ist der vierte Teil und der komplette Gedichtband überschrieben.
Diese exponierte Positionierung kann kein Zufall sein. Das Gedicht markiert den Zeitpunkt vor einem radikalen Neuanfang. Im Moment absoluter Sprachlosigkeit gelingt es dem Schriftsteller-Ich, sich selbst aus dem Nichts heraus neu zu erfinden. Diese existenziellen Schwellenzustände sind Augenblicke höchster Gefährdung, bergen aber auch das größte poetische Potenzial. Diese Momente sind für den Schriftsteller die entscheidenden. Da, wo nichts mehr hilft und nichts anderes mehr gilt, so Peter Handke in seiner Büchner-Preis-Rede, „als das hoffnungsbestimmte poetische Denken, das die Welt immer wieder neu anfangen läßt, wenn ich sie in meiner Verstocktheit schon für versiegelt hielt, und es ist auch der Grund des Selbstbewußtseins, mit dem ich schreibe.“
Handke wird es wohl so gewollt haben: die spartanische Neuausgabe seiner Gedichte mit kargen editorischen Anmerkungen, ohne Anhang, Kommentar, ergänzendes Vor- oder Nachwort – ein Understatement, das dem Autor ansonsten gar nicht eigen ist. Vielleicht möchte er seine Lyrik nicht überbewertet wissen. Eine Poesie, der oft die Bodenhaftung fehlt, das prosaische Gegengewicht der langsamen, mäandernden Erzählung.
Diese exponierte Positionierung kann kein Zufall sein. Das Gedicht markiert den Zeitpunkt vor einem radikalen Neuanfang. Im Moment absoluter Sprachlosigkeit gelingt es dem Schriftsteller-Ich, sich selbst aus dem Nichts heraus neu zu erfinden. Diese existenziellen Schwellenzustände sind Augenblicke höchster Gefährdung, bergen aber auch das größte poetische Potenzial. Diese Momente sind für den Schriftsteller die entscheidenden. Da, wo nichts mehr hilft und nichts anderes mehr gilt, so Peter Handke in seiner Büchner-Preis-Rede, „als das hoffnungsbestimmte poetische Denken, das die Welt immer wieder neu anfangen läßt, wenn ich sie in meiner Verstocktheit schon für versiegelt hielt, und es ist auch der Grund des Selbstbewußtseins, mit dem ich schreibe.“
Handke wird es wohl so gewollt haben: die spartanische Neuausgabe seiner Gedichte mit kargen editorischen Anmerkungen, ohne Anhang, Kommentar, ergänzendes Vor- oder Nachwort – ein Understatement, das dem Autor ansonsten gar nicht eigen ist. Vielleicht möchte er seine Lyrik nicht überbewertet wissen. Eine Poesie, der oft die Bodenhaftung fehlt, das prosaische Gegengewicht der langsamen, mäandernden Erzählung.
Michaela Schmitz, Deutschlandradio, 24.3.2008
Der prosaische Lyriker
In ihrem Nachwort berichtet Ulla Berkéwicz von den Mühen, die es sie gekostet hat, Handke zur Publikation eines Bandes mit seinem Lyrikbestand zu bewegen – er habe abgelehnt mit der Begründung, er sei kein Lyriker. Wie das vorliegende Buch beweist, hatte er schließlich doch eingewilligt. Freilich könnte man ja auch fragen, was die Sammlung aus bereits vorhandenen Lyrikbänden soll – der Fan und Kenner wird die „Originale“ bereits haben. Stellen wir uns also vor, es wäre Musik: da ist es durchaus üblich, auch eine „Das Beste von …“-Kompilation zu haben. Also schmökern wir etwas in Handkes Gedichten aus dem Zeitraum 1969 bis 1986.
Den ersten Teil bilden die wesentlichen Texte aus Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt – im zweiten Teil finden sich Gedichte aus Das Ende des Flanierens und jene, die in den fünf sogenannten Notizbüchern enthalten sind. Handke selbst hat sie „gemixt“ und teilweise leicht überarbeitet. Den dritten Teil bildet das Gedicht an die Dauer – der vierte Teil Leben ohne Poesie entstammt dem Band Als das Wünschen noch geholfen hat.
Früher hatte sich Handke noch mit den wesentlichen Dingen der Existenz beschäftigt – z.B. mit der Erfahrung, etwas zum ersten Mal in seinem Leben wahrgenommen zu haben. Zu bedenken gilt es wohl dabei, dass den meisten Menschen die meisten Ersterfahrungen überhaupt nicht als solche bewusst sein dürften – das wäre andererseits überhaupt der Ausweg aus der Empfindung destaedium vitae: jede Erfahrung in ihrer jeweiligen Konstellation wieder als eine neue (= erste) zu empfinden. Konstitutiv für unser Leben ist wohl auch die Zeit – mit welch erschreckender Logik dichtete Handke damals noch: „Die Zeit ist ein Hauptwort. Das Hauptwort bildet keine Zeit. Da die Zeit ein Hauptwort ist, bildet die Zeit keine Zeit.“
Bei Handke hat man das Gefühl, dass das sogenannte Lyrische Ich sehr identisch mit ihm selbst ist – und dass dieses Lyrische Ich eher sehr prosaisch ist. Nein, ein begnadeter Lyriker ist Handke gerade nicht – und es geht auch eher ums Begreifen als ums Ergriffenwerden. Womit wir über den Inhalt ein formales Problem bekommen: handelt es sich manchmal wirklich und eigentlich noch um Lyrik?! Eher wohl um Philosophie, wenn uns Handke die Absurditäten des Lebens um die Ohren haut! Er hat schon immer zu denjenigen gehört, die scheinbar Banales für uns auffällig gemacht haben. Allerdings packt er die menschliche Kernproblematik beim Schopf, wenn er etwa über Die Besitzverhältnisse räsoniert: „Mit dem Wort ICH fangen schon die Schwierigkeiten an.“ Oder mit welchem Recht benutzt man das Possessivpronomen: „MEINE Erinnerungen“ – „MEIN Land“ – „MEIN Gott“?! Allerdings der steckbrieflich Gesuchte beteuert vor seinem Bild: „das bin nicht ICH.“
Oder wem ist schon einmal bewusst geworden, wie viele Rollenzuweisungen wir erdulden müssen, wie sie uns Handke in den Veränderungen im Lauf des Tagesvorexerziert – wir verwandeln uns unmerklich in einen Fußgänger, einen Kunden, einen Antragsteller, einen Neugierigen, einen Wanderer, ein Objekt, ein Hindernis. Mit die nachhaltigsten Textpassagen Handkes sind wohl Die drei Lesungen des Gesetzes, wo es nach der Verkündigung der eingeschränkten Rechte des Staatsbürgers heißt: „Allgemeiner, stürmischer, nicht enden wollender Beifall.“Oder die Texte, in denen versuchsweise etwas verglichen oder verwechselt wird, in denen Wahrnehmungen variiert werden – und eigentlich kulminiert doch alles in der Bemerkung: „jedes Wort / ist ein Reizwort“ – und noch erschreckender: „schon erscheint mir jeder Satz als ein Traum von dem, was ich wahrnehme.“ Handke forderte immer wieder von der Literatur die Auflösung konventionalisierter Bedeutungen, den Zweifel an der eigenen Wahrnehmung. Als Konsequenz musste er der Literatur den Anspruch auf Realismus verweigern.
Leider sind die Texte in Das Ende des Flanierens heute eher noch nichtssagender als bei ihrem ersten Erscheinen (1980). Großartig dagegen nach wie vor das Langpoem Gedicht an die Dauer (1986), das man lesen kann als ekstatischen Essay. Das Schlusskapitel bildet sozusagen die Kompilation Leben ohne Poesie (1974), wo tapfer Erinnerungen und Beobachtungen und Reflexionen addiert werden – oft sehr prosaisch, so dass der Ausruf am Ende eher zynisch klingt: „Wie stolz bin ich auf das Schreiben gewesen!“ Denn schließlich muss die freche Frage bleiben: wer hat mehr Poesie: Handke oder das Leben?!
Den ersten Teil bilden die wesentlichen Texte aus Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt – im zweiten Teil finden sich Gedichte aus Das Ende des Flanierens und jene, die in den fünf sogenannten Notizbüchern enthalten sind. Handke selbst hat sie „gemixt“ und teilweise leicht überarbeitet. Den dritten Teil bildet das Gedicht an die Dauer – der vierte Teil Leben ohne Poesie entstammt dem Band Als das Wünschen noch geholfen hat.
Früher hatte sich Handke noch mit den wesentlichen Dingen der Existenz beschäftigt – z.B. mit der Erfahrung, etwas zum ersten Mal in seinem Leben wahrgenommen zu haben. Zu bedenken gilt es wohl dabei, dass den meisten Menschen die meisten Ersterfahrungen überhaupt nicht als solche bewusst sein dürften – das wäre andererseits überhaupt der Ausweg aus der Empfindung destaedium vitae: jede Erfahrung in ihrer jeweiligen Konstellation wieder als eine neue (= erste) zu empfinden. Konstitutiv für unser Leben ist wohl auch die Zeit – mit welch erschreckender Logik dichtete Handke damals noch: „Die Zeit ist ein Hauptwort. Das Hauptwort bildet keine Zeit. Da die Zeit ein Hauptwort ist, bildet die Zeit keine Zeit.“
Bei Handke hat man das Gefühl, dass das sogenannte Lyrische Ich sehr identisch mit ihm selbst ist – und dass dieses Lyrische Ich eher sehr prosaisch ist. Nein, ein begnadeter Lyriker ist Handke gerade nicht – und es geht auch eher ums Begreifen als ums Ergriffenwerden. Womit wir über den Inhalt ein formales Problem bekommen: handelt es sich manchmal wirklich und eigentlich noch um Lyrik?! Eher wohl um Philosophie, wenn uns Handke die Absurditäten des Lebens um die Ohren haut! Er hat schon immer zu denjenigen gehört, die scheinbar Banales für uns auffällig gemacht haben. Allerdings packt er die menschliche Kernproblematik beim Schopf, wenn er etwa über Die Besitzverhältnisse räsoniert: „Mit dem Wort ICH fangen schon die Schwierigkeiten an.“ Oder mit welchem Recht benutzt man das Possessivpronomen: „MEINE Erinnerungen“ – „MEIN Land“ – „MEIN Gott“?! Allerdings der steckbrieflich Gesuchte beteuert vor seinem Bild: „das bin nicht ICH.“
Oder wem ist schon einmal bewusst geworden, wie viele Rollenzuweisungen wir erdulden müssen, wie sie uns Handke in den Veränderungen im Lauf des Tagesvorexerziert – wir verwandeln uns unmerklich in einen Fußgänger, einen Kunden, einen Antragsteller, einen Neugierigen, einen Wanderer, ein Objekt, ein Hindernis. Mit die nachhaltigsten Textpassagen Handkes sind wohl Die drei Lesungen des Gesetzes, wo es nach der Verkündigung der eingeschränkten Rechte des Staatsbürgers heißt: „Allgemeiner, stürmischer, nicht enden wollender Beifall.“Oder die Texte, in denen versuchsweise etwas verglichen oder verwechselt wird, in denen Wahrnehmungen variiert werden – und eigentlich kulminiert doch alles in der Bemerkung: „jedes Wort / ist ein Reizwort“ – und noch erschreckender: „schon erscheint mir jeder Satz als ein Traum von dem, was ich wahrnehme.“ Handke forderte immer wieder von der Literatur die Auflösung konventionalisierter Bedeutungen, den Zweifel an der eigenen Wahrnehmung. Als Konsequenz musste er der Literatur den Anspruch auf Realismus verweigern.
Leider sind die Texte in Das Ende des Flanierens heute eher noch nichtssagender als bei ihrem ersten Erscheinen (1980). Großartig dagegen nach wie vor das Langpoem Gedicht an die Dauer (1986), das man lesen kann als ekstatischen Essay. Das Schlusskapitel bildet sozusagen die Kompilation Leben ohne Poesie (1974), wo tapfer Erinnerungen und Beobachtungen und Reflexionen addiert werden – oft sehr prosaisch, so dass der Ausruf am Ende eher zynisch klingt: „Wie stolz bin ich auf das Schreiben gewesen!“ Denn schließlich muss die freche Frage bleiben: wer hat mehr Poesie: Handke oder das Leben?!
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